Bucht in Alexandria: Das Wasser steht nah an Hochhäusern
Story

Versinkende Städte: Vom kulturellen Erbe lernen 

#Transdisziplinarität

Autorin: Gunthild Kupitz

Weltweit drohen Küstenstädte durch steigende Meeresspiegel als Folge der Erderwärmung zu versinken. Wie der Umgang damit gelingt, und das nicht nur technisch, sondern vor allem sozial und emotional, fragt sich Stadtforscherin Hilke Marit Berger – und sucht in der Vergangenheit nach Antworten für die Zukunft.

Mai 2024. Die Hamburger Stadtforscherin Dr. Hilke Marit Berger postet aus Alexandria auf LinkedIn: "This week is all about the Sinking Cities project! Diese Woche dreht sich alles um das Projekt der versinkenden Städte!" und erklärt: „Gemeinsam mit lokalen Partnern erforschen wir das kulturelle Erbe und wie es als transformative Ressource in Klimaanpassungsprozessen für hochwassergefährdete Städte genutzt werden kann.“

Fünf Monate später sitzt Berger in Hamburg an einem Tisch im deckenhoch verglasten Konferenzsaal des City Science Lab der Hafencity Universität (HCU) mit Blick auf ein Fleet, einem der Seitenarme der Elbe. Mobile, großformatige Bildschirme stehen ebenso wie Stellwände mit Projektinfos in dem weitläufigen Raum. Mehrmals die Woche lassen sich hier Besuchende aus aller Welt die Arbeit des Labs erklären.

Sinking Cities

Berger klappt ihren Laptop auf. Die 43-Jährige ist wissenschaftliche Leiterin des City Science Lab. Das 30-köpfige transdisziplinäre Team besteht unter anderem aus Expert:innen der Stadtplanung, Architektur, Soziologie, Informatik und Philosophie. In Kooperation mit dem Media Lab des Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Cambridge sowie einem Netzwerk aus internationalen, nationalen und lokalen Expert:innen aus Wissenschaft, Wirtschaft und NGOs erforschen sie, wie sie innovative Lösungen für wachsende Städte entwickeln können – zum Wohle der Bevölkerung.

Portrait einer Frau

Hilke Marit Berger: Kulturwissenschaftlerin, Stadtforscherin und wisenschaftliche Leitung des City Science Lab an der HafenCity Uaiversität Hamburg (HCU)

Eines der Projekte ist das für zwei Jahre mit 500.000 Euro von der VolkswagenStiftung geförderte Pioniervorhaben Sinking Cities: Cultural Heritage as a Transformational Resource. In dem Kunst- und Wissenschaftsprojekt wird untersucht, wie Bewohner:innen der drei Küstenstädte Jakarta, Alexandria und Bremen mit den Folgen der Erderwärmung umgehen. Während Jakarta langsam im Meer versinkt, schlägt in Alexandria das Wasser gegen Häuserwände und Bremen erlebt immer heftigere Sturmfluten. Ziel des Projekts: aus dem immateriellen Kulturerbe dieser Städte das Wissen für eine nachhaltige und sozial integrierte Klimaanpassung zu gewinnen.

Berger, die Sinking Cities seit Oktober 2023 verantwortet, klickt auf einen Link in ihrem Laptop; sie ist mit Jan-Philipp Possmann zum Videocall verabredet. Demnächst wird in Alexandria das erste Ergebnis ihres Projekts vorgestellt.

Der 49-jährige Dramaturg und Kurator ist als assoziierter Forscher bei Sinking Cities mit dabei, außerdem Annika Kühn, eine Soziologin aus Bergers City Science Lab-Team, sowie Teresa Erbach vom Forschungsinstitut für Nachhaltigkeit (RIFS) in Potsdam, wo man sich hauptsächlich mit den Themen Klimawandel und nachhaltige Ökonomie beschäftigt.

Vom Ostseeurlaub zur Projektidee

Es war Possmann, der die Grundlagen für das Vorhaben schuf – oder wie es Berger in dem LinkedIn-Post vom Mai geschrieben hatte: "Diese Reise begann mit der unglaublichen Arbeit von Jan-Philipp 'JP' Possmann und seinem Wissensschatz über versunkene Städte im Meer."

Im Sommer 2021, als langanhaltende Regenfälle die Ahr über ihre Ufer treten ließ und erst Straßen wegspülte, dann Brücken zerstörte und schließlich Häuser verwüstete, hatte Possmann Urlaub an der vorpommerschen Ostseeküste gemacht. Dort hörte er zum ersten Mal von der reichen Stadt Vineta, die der Sage nach bei einer Sturmflut unterging. Auch wenn die Gleichzeitigkeit von aktuellem Ereignis, Mythos und Urlaub am Meer reiner Zufall war – das neue Wissen, welche Wucht Wasser haben kann, ließ Possmann nicht los: "Atlantis kennt jeder. Aber Vineta?" Er begann, zu recherchieren. "Die versunkene Stadt – das ist so etwas wie ein universelles kulturelles Erbe: Es gibt sie überall und in allen Kulturen: vom Pazifik über Japan bis zur Ukraine und der dänischen Küste."

Portrait eines Mannes

Jan-Philipp Possmann ist Kurator und in dem transdisziplinären Forschungsprojekt als Partner aus der Kulturlandschaft vertreten. 

Nach dem Urlaub setzte Possman seinen ersten Blog auf: sein öffentliches digitales Archiv. Auf "Poli-Sea – Geschichten von Zugehörigkeit, Verlust und Neuanfängen. Ressourcen für die Anpassung an steigende Meeresspiegel und sinkende Städte" verlinkte er sämtliche Filme, Comics, Lieder und Erzählungen, die er bis dahin gesammelte hatte, beginnend mit dem 1. Jahrhundert vor Christus. Inzwischen ist daraus Polis-Sea entstanden, ein Netzwerk für kulturelle Klimaanpassung; ihm gehören mittlerweile sieben Wissenschafts- und Kulturinstitutionen in sechs Küstenstädten auf drei Kontinenten an.

Wie wäre es, den Klimawandel aus der Perspektive der Kultur zu betrachten?

Jan-Philipp Possmann

Possmanns Motiv? "Ich wollte etwas gesellschaftlich Sinnvolles tun." Der Klimawandel sei ein globales Problem, das alle Menschen teilten. Doch dem sei mit politischen Mitteln nicht beizukommen, weil die meist nationalstaatlich entschieden würden. "Wie wäre es aber, ihn aus der Perspektive der Kultur zu betrachten und auf diese Weise etwas Produktives zur Diskussion beizutragen?" Genau das also, was sie gerade im Sinking Cities-Projekt tun, "wo wir uns aus historischer Perspektive mit aktuellen ökologischen Problemen beschäftigen".

Wird sich dadurch der Klimawandel aufhalten lassen? "Nein. Aber es könnte helfen, die notwendigen Anpassungen an die neue Situation für die Menschen sozialverträglich und nachhaltig zu gestalten." Ein Punkt ist Possmann besonders wichtig: "Das Problem beim Klimadiskurs ist, dass er immer als Umweltproblem diskutiert wird. Es ist aber ein care-Problem, also eines der Fürsorge. Was bedeutet: Wir müssen dafür sorgen, dass alle mit den sich verändernden Lebensbedingungen, die wir nun mal leider selbst geschaffen haben, umgehen können."

Küstenstädte transdisziplinär beforschen

Für ihr Sinking Cities-Projekt hat das Team um Berger aus Possmanns Polis-Sea-Netzwerk mit Jakarta, Alexandria und Bremen drei Städte gewählt, die vom steigenden Meeresspiegel unterschiedlich stark betroffen sind. Auch im Umgang mit Extremwetter haben die Bewohner:innen unterschiedliche Erfahrungen gemacht.

Jakarta zum Beispiel, mit mehr als elf Millionen Einwohner:innen eine der größten Städte weltweit, versinkt jedes Jahr ein Stückchen mehr – auch aufgrund der Erderwärmung. Bereits heute liegen 40 Prozent des Stadtgebiets unterhalb des Meeresspiegels. 2050 wird die indonesische Hauptstadt fast vollständig von Wasser bedeckt sein. Auch in Alexandria nagt das Meer am Strand. An einigen Stellen hat es von den ursprünglichen 30 Metern nur noch eine Handtuchlänge übriggelassen. Und Bremen? Versucht sich gegen immer häufigere und heftigere Sturmfluten mit massiven Deichanlagen zu schützen.

Mit der Initiative "Pioniervorhaben: Gesellschaftliche Transformationen" fördert die VolkswagenStiftung insbesondere solche Projekte, die einen neuen Blick auf bestehende sowie unerforschte oder gerade entstehende gesellschaftliche Transformationsprozesse werfen. Die Geförderten­­­ arbeiten dafür mit nicht-wissenschaftlichen Partner:innen zusammen; kurz: gesellschaftliche Transformation durch Transdisziplinarität. Eine Arbeitsweise, die seit seiner Gründung übrigens tief in der DNA des City Science Lab Hamburg steckt.

Bucht in Alexandria: Das Wasser steht nah an Hochhäusern

In der Corniche-Bucht in Alexandria (Ägypten) schlägt das Mittelmeer immer häufiger gegen Häuserfassaden. 

"Transdisziplinär zu forschen, finde ich extrem bereichernd", sagt Berger: „Man lernt auf diese Weise andere Zugänge zu einem Thema kennen, von denen man vorher gar nicht wusste, dass es sie gibt." Was dafür nötig ist? "Offenheit. Und Neugier." Beides hat Berger reichlich, das zeigt schon ihr Lebenslauf. Studiert hat sie unter anderem Theaterwissenschaft, war Regieassistentin bei Herbert Fritsch und ging nach ihrem Magister als wissenschaftliche Mitarbeiterin zu Prof. Dr. Gesa Ziemer, die den Lehrstuhl für Digitale Urbane Kulturen an der HafenCity Universität Hamburg (HCU) leitet. Bei ihr promovierte Berger, wechselte anschließend als Referentin in die Behörde für Kultur und Medien, bevor sie 2020 als Postdoc wieder zurück an die HCU kam: als Ziemers Stellvertreterin am City Science Lab.

Parallel beendet sie gerade mit einem Kollegen ihren ersten Roman. "Am liebsten würde ich in meine Signatur den Titel 'Expert Generalist' einfügen. So sehe ich mich zumindest selbst, und ich glaube, dass das eine Stärke ist. Natürlich braucht es die Leute, die total fokussiert an einem Thema arbeiten, aber eben auch Menschen, die Dinge miteinander verknüpfen können."

Kollaborative Forschung mit gleichberechtigten Partner:innen

Für Sinking Cities suchten Berger und ihre Kolleg:innen über ihre Netzwerke nach Menschen mit vergleichbar vielseitigem Blickwinkel in den Kulturinstitutionen und Forschungszirkeln von Alexandria, Jakarta und Bremen.

Gruppenfoto

Hilke Berger und Jan-Philipp Possmann (hintere Reihe, mittig) mit dem Sinking Cities Team bei einem Projekttreffen in Alexandria. 

"Wir wollen wirklich kollaborative Forschung mit gleichberechtigten Partner:innen." Deshalb wählten die kulturellen Einrichtungen ihre Künstler:innen auch selbst aus, die von lokalen Forschenden mit einer Materialsammlung zum immateriellen kulturellen Erbe unterstützt wurden. Hyperlokale Reallabore eben – ohne Einmischung von außen.

Hat Berger schon heute eine Vorstellung davon, wie ein mögliches Ergebnis ganz konkret aussehen könnte, jetzt, wo bereits mehr als die Hälfte der Projektzeit vorbei ist? Und was würde sie sich wünschen? "Nein. Vieles ist noch in der Entwicklung. Aber ich bin natürlich sehr gespannt: Das Ziel der Kollaboration mit den Künstler:innen ist, durch die künstlerische Übersetzung des Materials einen neuen Zugang zu schaffen."

Halbzeit – und Start der künstlerischen Aktivitäten

Mitte November 2024. Auf LinkedIn teilt Berger einen Post ihrer Kollegin Annika Kühn: "Nach Monaten der Fernarbeit treffen wir uns in Alexandria zur Eröffnung von Islam Shabanas Arbeit 'Atlantis of the Marble', der ersten von drei Projektausstellungen. Sie zeigt eingravierte Erinnerungen als Zeugnis von Leben und Tod nach einem eventuellen Niedergang der Stadt." 

Der ägyptische Multimediakünstler Shabana hatte während der Ausstellung Zitate von heutigen Alexandrianer:innen in arabischer Schrift in eine PVC-Platte mit Marmoroptik gelasert. Vier Wochen lang waren Sätze wie die von Essam Shams in der Galerie B’sarya for Arts zu lesen: "Alexandria ist einzigartig in ihrem Wesen. Meine Beziehung zu ihr ist meine Beziehung zu mir selbst."

Nur 200 Menschen haben sich in dieser Zeit Shabanas Installation angesehen – "das Thema Erderwärmung ist in einem Land wie Ägypten, in dem Demokratie und Bürgerrechte stark eingeschränkt sind, politisch zu heikel", urteilt Berger rückblickend. Da sei sie zu naiv gewesen. Dennoch empfindet sie den Prozess der Arbeit als wertvoll: "Wir sind mit ganz unterschiedlichen Menschen vor Ort in Kontakt gekommen."

Menschen stehen um ein Gerät, das Schriftzeichen in eine Platte lasert.

Bei der Ausstellung in Alexandria werden Zitate von Stadtbewohner:innen auf eine Platte gelasert. 

In Jakarta, wo Überflutungen bereits alltäglich sind, werden von Februar 2025 an technische Dokumente der Klimaanpassung auf Kunst treffen. Entstanden ist die mehrteilige Ausstellung in Workshops der Künstler:innen mit Kindern und Jugendlichen sowie Wissenschaftler:innen und lokalen Communities – "etwas, was in Jakarta noch nie zu erleben war", so Possmann. Außerdem wird es ein Begleitprogramm geben mit Lesungen und "Serious Games" also interaktiven Spielen, die Wissen vermitteln oder komplexe Themen erfahrbar machen.

Am 22. März 2025, dem Weltwassertag, zeigt der Bremer Projektpartner Schwankhalle eine Uraufführung von Auftragskompositionen über das Sinken und Singen. Anschließend recherchieren drei Künstler:innen gemeinsam mit sozialen Vereinen und lokalen Forscher:innen vier Wochen lang in der Bremer Neustadt, jenem Stadtteil also, der vom Ausbau der Deichanlagen am stärksten betroffen ist. Die Arbeiten aus Alexandria und Jakarta sollen miteinfließen – und alles zusammen mit dem Bremer Publikum geteilt werden.

"Meine Hoffnung ist, dass sich in der Vielfalt der unterschiedlichen Zugänge zeigen wird, dass das kulturelle Erbe tatsächlich eine Ressource ist", sagt Berger. "Eine, die nicht irgendwo im Archiv verstaubt, sondern eine Lebendigkeit hat, die uns allen tatsächlich nutzen kann. Auch im Hinblick auf Trauer und Loslassen. Denn wir werden nicht alles retten können."

 

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