Frau, die zuhört
Story

Damit alle zu Wort kommen: Bürgerrat zu KI-Forschung

#Demokratie #Künstliche Intelligenz

Autor: Tim Schröder

Die Rhetorikerin Anika Kaiser erforscht, wie sich die Perspektiven der Menschen hinsichtlich der großen Themen unserer Zeit berücksichtigen lassen – etwa bei der Künstlichen Intelligenz (KI). Sie ist die Richtige, damit es bei diesem basisdemokratischen Prozess nicht zu abgehoben zugeht: In ihrem ersten Leben machte sie eine Ausbildung zur Malerin.

Wenn man heute durch Tübingen fährt, dann sieht man noch einige Häuser, die Anika Kaiser angestrichen hat; damals, als sie möglichst schnell ins Leben starten wollte und direkt nach der mittleren Reife eine Malerausbildung begann. "Ich wollte mein eigenes Geld verdienen, auf eigenen Beinen stehen", sagt Anika Kaiser heute. "Ich hatte genug vom Lernen und wollte im Freien arbeiten." Sie heuerte bei einem Malerei- und Gerüstbaubetrieb an, der nicht nur den üblichen Fassadenanstrich, sondern auch architektonisch anspruchsvolle Projekte im Programm hatte. Am meisten Spaß machte ihr die Renovierung von zwei Kirchen. 

Abends zum Studium Generale

Doch sie spürte schon damals, dass sie sich eigentlich für etwas anderes interessierte. Nach Feierabend fuhr sie oft an die Universität Tübingen, um öffentliche Vorlesungen im Studium Generale zu besuchen – Vorlesungen, etwa zur sozialen Funktion des Lachens oder zu Essstörungen. "Es waren die Geisteswissenschaften, die mich am meisten ansprachen," sagt Anika Kaiser. Damals reifte in ihr der Wunsch zu studieren. Doch der Weg bis zur Uni-Karriere zog sich. Noch während der Lehre bekam sie ihre erste Tochter – mit 18. Die Lehre pausierte. Zwei Jahre später kam ihr erster Sohn zur Welt. Doch 2012 stand ihr Entschluss fest. Sie wollte das Abi nachholen, um studieren zu können – und brach ihre Ausbildung ab.

Heute, mehr als zehn Jahr später, hat sie erreicht, was damals noch ein ferner Wunsch war. Sie ist in den Geisteswissenschaften angekommen. Sie ist Doktorandin am Seminar für Allgemeine Rhetorik der Universität Tübingen, genauer am RHET AI Center, einem Zentrum für Wissenschaftskommunikationsforschung, das von der VolkswagenStiftung gefördert wird. Heute hat sie einen Bachelor in Rhetorik in der Tasche und einen Master in Digital Humanities – digitalen Geisteswissenschaften. Es scheint, als habe sie die perfekte Mischung zwischen dem Abstrakten und der realen Welt gefunden, denn in ihrer Promotion erforscht sie einen Aspekt, der für unsere Demokratie essenziell ist: Wie können Menschen zu Wort kommen, wenn es um die großen Themen unserer Zeit geht? Wie gelingt es, neben wissenschaftlichen Perspektiven die Sichtweisen der Bevölkerung umfassend sichtbar zu machen?

Bürgerrat zum Thema KI

Konkret dreht es sich am RHET AI Center der Universität Tübingen und des Karlsruher Instituts für Technologie um das brandaktuelle Thema Künstliche Intelligenz (KI). Viele Menschen verbinden den Begriff KI heute mit Chatbots wie ChatGPT, künstlich generierten Bildern oder humanoiden Robotern. KI fasziniert, löst aber auch Ängste aus. Viele Millionen Euro fließen jährlich in die KI-Forschung. Insofern ist das Thema von öffentlichem Interesse.

In der Politik gilt KI als entscheidende Zukunftstechnologie. Zudem soll sich die KI 'werteorientiert' entwickeln. Doch oft bleibt unklar, was das bedeutet. "Deshalb ist es sinnvoll, besser zu verstehen, welche Erfahrungen Menschen mit KI-Anwendungen machen, welche Konsequenzen sich aus dem Umgang mit KI-Technologien in unterschiedlichen Lebenskontexten ergeben und wie diese die Weltanschauungen und Wertvorstellungen der Menschen prägen", sagt Anika Kaiser. Die KI-Forschung und die Politik könnten nur dann mit gesellschaftlichen Bedarfen umgehen, wenn diese auch umfassend sichtbar würden. "Was eine 'werteorientierte' KI-Forschung eigentlich ist, lässt sich in einer Demokratie nur gemeinsam mit den Menschen sinnvoll bestimmen." 

Vier junge Menschen laufen durch Tübingens Innenstadt

Anika Kaiser (links) und ihre Kolleg:innen vom RHET AI Center in Tübingens Innenstadt. 

Wie sich die unterschiedlichen Perspektiven auf die KI-Forschung einbeziehen lassen, will sie mit ihrer Promotion herausfinden. Zusammen mit Patrick Klügel, Manager für Public Engagement an der Universität Tübingen, und den anderen in ihrem Team hat sie den Bürgerrat Künstliche Intelligenz und Freiheit ins Leben gerufen. Zusammen haben sie rund 40 Menschen aus verschiedenen Regionen Baden-Württembergs in vier Ratssitzungen zum Thema KI zusammengebracht, die per Los ausgewählt worden waren. Es ging darum, das Thema KI-Forschung zu diskutieren; und Anregungen dafür zu finden, wie sich die öffentlich geförderte KI-Forschung durch die Gesellschaft begleiten lässt.

Was eine 'werteorientierte' KI-Forschung eigentlich ist, lässt sich in einer Demokratie nur gemeinsam mit den Menschen sinnvoll bestimmen. 

Anika Kaiser

Als Rhetorikerin weiß Anika Kaiser, wie schwierig es ist, bei solchen Veranstaltungen alle Menschen gleichermaßen zu Wort kommen zu lassen, um deren Erfahrungen und Meinungen zu hören. Es gibt verschiedene Gründe, die dazu führen, dass Menschen in einer Gruppe nicht sprechen wollen oder nicht gehört werden. Anika Kaiser kennt diese Mechanismen. Manchen Menschen fehlen die Fachbegriffe, um sich treffend auszudrücken. Andere scheuen sich zu sprechen, wenn andere dominanter sind. Manche Menschen beanspruchen viel Redezeit für sich und lassen andere kaum zu Wort kommen. 

Gruppe Menschen in einem Tagungsraum.

Eindrücke der ersten Bürgerratssitzung am 21. September 2024. 

Drei Personen lachend vor einem Laptop

Eindrücke der ersten Bürgerratssitzung am 21. September 2024. 

Gruppe Menschen in einem Tagungsraum.

Eindrücke der ersten Bürgerratssitzung am 21. September 2024. 

Gruppe Menschen in einem Tagungsraum.

Eindrücke der ersten Bürgerratssitzung am 21. September 2024. 

"Solche Faktoren können das Meinungsbild verzerren, weil dann nicht jeder die Gelegenheit hat, seine Ansicht zu äußern." Daher komme es darauf an, einen Raum zu schaffen, in dem sich jeder wohlfühle und äußern mag. Für den Bürgerrat sei das besonders wichtig, weil die Ergebnisse im März 2025 zu Empfehlungen an die Wissenschaft und Politik zusammengefasst werden, die ein Team des Bürgerrats dem baden-württembergischen Wissenschaftsministerium überreichen wird. 

Das Ideal von der Gleichheit

Anika Kaisers Promotion geht über diese Empfehlungen hinaus. Sie analysiert vor allem das Miteinander der Ratsmitglieder während der Sitzungen. Dafür hat sie in Kooperation mit dem Zentrum für Medienkompetenz (ZFM) der Uni Tübingen während der Veranstaltungen Ton- und Videoaufzeichnungen gemacht. Diese schaut sie sich jetzt genauer an. Ihre Arbeit beruht auf dem demokratischen Ideal der Deliberation, der Vorstellung, dass in einer Gruppe jeder Mensch frei und gleich sein solle – und damit auch dieselbe Chance haben sollte, am gemeinsamen Wissensbildungsprozess teilzunehmen. "Plenumsveranstaltungen wie zum Beispiel Bürgerräte legitimieren sich durch dieses Ideal der Deliberation. Ich will herausfinden, ob sich Bürgerräte tatsächlich so gestalten lassen, dass sie dieses Ideal erfüllen."

Denn das sei keineswegs trivial. So ließen sich beispielsweise bestimmte Vorurteile, die sich auf die Glaubwürdigkeit von Personen auswirken, nicht einfach aus der Welt schaffen; etwa solche, die sich daraus ergeben, wie eine Person auf uns wirkt. "Es ist ganz normal, dass wir automatisch überlegen, wer da spricht, was für eine Person das ist und welche Interessen sie verfolgt", sagt Anika Kaiser. Spricht jemand mit breitem Akzent, kann das auf Zuhörerinnen und Zuhörer beispielsweise weniger kompetent wirken. 
 

Es kommt vor, dass Leute mit unpassenden Begriffen und Argumenten erklären, was das Gegenüber sagen will, statt es ausreden zu lassen.

Anika Kaiser

Fachleute unterscheiden dabei zwei Formen der Ungerechtigkeit: die Zeugnisungerechtigkeit und die hermeneutische Ungerechtigkeit. Von der Zeugnisungerechtigkeit ist die Rede, wenn jemand aufgrund von Vorurteilen als weniger glaubwürdig wahrgenommen wird, unabhängig davon, wie verlässlich oder kompetent die Person tatsächlich ist. Eine Rolle können dabei etwa das Geschlecht, die Hautfarbe oder soziale Herkunft spielen. Hermeneutische Ungerechtigkeit entsteht, wenn eine Person ihre Gedanken oder Meinungen nicht äußern kann, weil das benötigte Wissen oder die sprachlichen Möglichkeiten nicht zur Verfügung stehen. "In solchen Situationen kommt es vor, dass manche Leute anfangen, mit unpassenden Begriffen und Argumenten zu erklären, was das Gegenüber sagen will, statt es ausreden zu lassen", sagt Anika Kaiser. Auch ein solches Verhalten verhindere, dass alle Mitglieder einer Gruppe gleich seien. 

Als Rhetorikerin sieht sie ihre Aufgabe darin, alternative Formen der Kommunikation und Interaktion zu entwickeln, damit sich jeder zu den großen Themen unserer Zeit äußern kann – und damit viele Stimmen aus der gesamten Gesellschaft gehört werden. Da es manchen Menschen schwerfällt, vor einer Gruppe zu sprechen, wurde im Bürgerrat zum Beispiel viel mit Handzeichen wie "Daumen hoch" und "Daumen runter" gearbeitet. 

Exklusionsmechanismen erkennen

"Natürlich gibt es für Workshops und Seminare ausgereifte Methoden, um eine Gruppe zu leiten", sagt sie. "Es ist aber etwas ganz anderes, Exklusionsmechanismen zu erkennen, die teilweise unbemerkt bestimmte Wissensbeiträge ausschließen." Selbstverständlich muss sie für ihre Arbeit selbst Kommunikationstalent mitbringen. Das hat man ihr bereits früh attestiert: Vor ihrem Studium hatte sie das Berufsinformationszentrum im Arbeitsamt besucht – und dort einen Test gemacht, mit dem die persönlichen Fähigkeiten und Talente abgefragt wurden. "Dabei kam heraus, dass ich mich als Bürgermeisterin gut eignen würde, die ja auch besonders kommunikativ sein muss", erzählt sie.

"Derzeit spiele ich mit dem Gedanken, in den Gemeinderat zu gehen – das soll sogar spannender sein als der Posten der Bürgermeisterin." Es ist gut möglich, dass sie das macht. Immerhin war sie von 2019 bis 2023 bereits Schöffin am Landgericht Tübingen. 

Um die Kommunikation im Bürgerrat zu analysieren, hat sie auch Fragebögen konzipiert, mit denen sie beispielsweise abfragt, ob jemand das Gefühl hat, dass Andere ihm gegenüber Vorurteile hatten. Sie hofft, dass Formate wie der Bürgerrat dank der Ergebnisse künftig tatsächlich die Gedanken, Meinungen oder Ängste der Menschen differenziert abbilden – im konkreten Fall im Hinblick auf die KI-Forschung. 

Frau vor einem Flipchart

Letztlich handelt es sich beim Bürgerrat um eine sehr kleine Stichprobe – 40 Menschen von insgesamt elf Millionen in ganz Baden-Württemberg sind nicht viel. Aber: Damit die Bürgerräte trotzdem möglichst vielfältig besetzt sind, fanden die vier Sitzungen in unterschiedlich großen Städten statt; auch um sowohl die Land- als auch Stadtbevölkerung mit im Boot zu haben. 

Wichtiger Dialog zwischen Gesellschaft und Wissenschaft

Für den Dialog zwischen der Gesellschaft und der Wissenschaft ist das ein Gewinn. "Denn zum einen erwartet die Politik, dass die Wissenschaft gesellschaftsrelevante Erkenntnisse liefert", sagt Anika Kaiser. "Zum zweiten ist die Wissenschaft mit ihrer Kernaufgabe 'Forschung' grundlegend zum Erkenntnisgewinn motiviert." Insofern habe die Wissenschaft ein intrinsisches Interesse daran zu erfahren, welche Erfahrungen und Wertvorstellungen die Menschen hätten – um damit ihre Forschung mitsamt ihrem Gesellschaftsbezug umfassender zu verstehen. 

Die Politik erwartet, dass die Wissenschaft gesellschaftsrelevante Erkenntnisse liefert.
Anika Kaiser

Im kommenden Jahr will Anika Kaiser mit ihrer Promotion fertig sein. Das dürfte klappen. Denn in den vergangenen 15 Jahren hat sie manches geschafft. Immerhin kam während ihres Masterstudiums ihr drittes Kind zur Welt. "Ich kenne das Leben als Erwachsene gar nicht ohne Kinder. Insofern ist das normal", sagt sie. Natürlich sei es oft anstrengend gewesen. Aber mit BAföG, Nebenjobs und Unterhalt ging es. Zudem war die Miete für die Wohnung im Familienwohnheim der Universität erschwinglich. Und eines zeichne sie aus, sagt sie. Sie habe Biss. "Immer wenn ich das Gefühl habe, dass ich etwas nicht kann, dann habe ich den Antrieb, es erst recht zu schaffen", erzählt Anika Kaiser. "Während des Abiturs habe ich mit Mathe gekämpft – und an der Uni dann gleich als erstes Volkswirtschaftslehre belegt, die ja viel Mathe beinhaltet." Und auch, als sie die Lehre schmiss, ohne zu wissen, ob sie BAföG fürs Studium erhalten würde, war da der Wille, es durchzuziehen. Insofern darf man gespannt sein, was sie mit ihrer Promotion am RHET AI und dem Bürgerrat so alles erreichen wird.

Das Praxisprojekt Bürgerrat

Der Bürgerrat ist ein Projekt der Event-Unit am RHET AI Center, Uni Tübingen. Finanziert wurde das Praxisprojekt durch die Exzellenzstrategie der Universität Tübingen sowie durch die VolkswagenStiftung.

Das Kernteam:

  • Patrick Klügel, Public Engagement Manager, Universität Tübingen; Teamleiter Unit 4 und Leiter des Bürgerratsprojekts.
  • Hannes Hassmann (WHK, öffentliche Begleitveranstaltungen)
  • Carolin Saia (WHK, öffentliche Kommunikation)
  • Hanna Broghammer (WHK, Leitung Redaktionsgruppe)
  • Alina Habermann (WHK, Bild- und Videomaterial) 
  • Sarah-Marie Schwegler (WHK, öffentliche Kommunikation)

Das Bürgerratsprojekt wurde extern unterstützt durch:

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