
Stefan Maul
Er kam mit dem Auftrag nach Mosul, das antike Ninive auszugraben. Inzwischen aber reicht die Mission des Altorientalisten Stefan Maul weit darüber hinaus: Er baut die Altertumswissenschaften im Irak neu auf. Und vermittelt den Menschen, was die Islamisten ihnen raubten: den Stolz auf ihr kulturelles Erbe.
Altorientalisten leben gefährlich. Zumindest wenn sie wie Stefan Maul nicht nur an der Heimatuniversität im behaglichen Heidelberg forschen, sondern auch in Mosul, der zweitgrößten Stadt im Irak, in der sich eine Vielzahl verfeindeter Milizen untereinander befehdet. Eine Stadt, die unter der Terrorherrschaft des Islamischen Staates (IS) gelitten hat und bei ihrer Befreiung 2017 völlig zerstört wurde.
Traumjob mit Risiko
Stefan Maul, Jahrgang 1958, fühlte sich nach eigenen Worten in das Berlin von 1945 versetzt, jenen Schutthaufen am Ende des Zweiten Weltkriegs, als er 2019 nach Mosul kam. Er hatte einen prestigeträchtigen Auftrag der irakischen Regierung erhalten, eine "Once in a Lifetime"-Chance für einen Altorientalisten: Unter seiner Leitung sollten die Ausgrabungen im antiken Ninive wiederaufgenommen werden, der Hauptstadt des Assyrischen Reiches. Mesopotamien. Zweistromland zwischen Euphrat und Tigris. Die erste Hochkultur der Menschheit. Alter Orient.
Klingt märchenhaft. War es aber nicht. Stefan Maul bezog mit seinem Team eine abgelegene Kriegsruine, die zunächst zum Grabungshaus der Heidelberger Ninive-Expedition ausgebaut werden musste. Ein Tummelplatz für Altertumsforschende und -studierende aus aller Welt. Hier finden die Aus- und Fortbildungsprogramme statt, die unter Mauls Führung entwickelt wurden. Eine Festung mit Mauer, Stacheldraht, Videokameras und sehr strengen Sicherheitsleuten. Mag Mosuls Wiederaufbau an Fahrt gewinnen, zum Glück für die Menschen. Aber befriedet ist die Gegend längst noch nicht. Spritztouren nach Feierabend sind den Insassen des Grabungshauses verboten. Wenn Maul Behördengänge in der Stadt machen muss, begleiten ihn Leibwächter mit Kalaschnikows.

Soldaten beschützen das Grabungsteam rund um die Uhr. Stefan Maul bedankt sich mit einer Urkunde beim Kommandeur.
Nein, kein märchenhafter Ort. Aber dank des Engagements von Maul und seinen Mitarbeitenden ist vom Grabungshaus ein Impuls ausgegangen, der maßgeblich zum Wiederaufschwung der Altorientalistik an jenem Ort beigetragen hat, wo sie schon fast verschwunden war: im Irak selbst. Wo die altorientalische Forschung nach vielen, vielen Kriegs- und Terrorjahren, kaum überraschend, darniederlag. Inzwischen ist das anders. An der Universität Mosul wird wieder Altertumswissenschaft gelehrt. Der irakische Antikendienst hat eine Niederlassung in der Stadt. Und das vom IS ausgeraubte und vollkommen zerstörte Antikenmuseum in Mosul soll in ein paar Jahren wiedereröffnet werden.
In viele dieser Aktivitäten engagiert verwickelt: Stefan Maul. "Von Anfang an lag uns die Förderung der Altorientalistik im Irak am Herzen", sagt Maul, "neben unserer Forschung in Ninive". Der Enthusiasmus, mit dem die Deutschen 2019 anfingen, die nachwachsende Generation im Irak in Fertigkeiten wie dem Entziffern originaler Keilschriften zu unterrichten, erhielt zunächst allerdings einen Dämpfer. Das Vorwissen der jungen Irakis war dem der übrigen Studierenden aus aller Welt deutlich unterlegen.
Assyrisch-babylonische Grammatik
"Wir haben auf diese Erfahrung reagiert", sagt Maul. Das in Heidelberg angebotene "Forschungslabor Alter Orient" findet nun in modifizierter Form auch in Mosul statt, wo Teilnehmende aus dem Irak während der grabungsfreien Zeit im Frühjahr und Winter ein Intensivtraining absolvieren: vier Wochen lang, jeweils von Donnerstag bis Sonntag, von acht bis 13 Uhr - Grammatik des Assyrisch-Babylonischen, Keilschriftkunde, Altorientalische Geschichte. "In der 'Masterclass' sammeln irakische Studierende überdies erstmals in ihrer Ausbildung Erfahrungen im Umgang mit Keilschriftoriginalen", sagt Maul. "Sie erlernen deren Entzifferung und zeichnerische Dokumentation. Man kann noch so viele Fachbücher studieren – diese Kompetenzen lassen sich nur im Umgang mit den Originalen entwickeln."

Mosul ist schon lange befreit, aber nicht befriedet: Den Wiederaufbau behindern konkurrierende Milizen.
Mit Bruchstücken, Tontafeln, Ziegelinschriften liefert die Grabung in Ninive Übungsmaterial zuhauf. Das Propädeutikum "Masterclass" bereitet die Teilnehmer:innen auf das vierwöchige "Forschungslabor" vor. Ein Bildungsangebot, für das sich inzwischen Nachwuchswissenschaftler:innen aus der ganzen Welt bei Maul bewerben.
Zehn Teilnehmende sind jeweils vorgesehen. Bislang waren es schon 90 Frauen und Männer aus 28 Nationen. Das Geschlechterverhältnis ist ausgewogen, mit einer Schwankungsbreite von zehn Prozent. Unter Anleitung erarbeiten die Gruppen die Edition eines kleinen Korpus von unveröffentlichten Keilschrifttexten. Zur Betreuung kooptiert Maul zusätzlich Fachwissenschaftler:innen aus der internationalen Community. Abgerundet wird das Programm mit Vorträgen, Seminaren, Exkursionen und Museumsbesuchen.
Mochte der Start 2019 auch etwas holprig gewesen sein, heute kann Maul mit Stolz behaupten: "Wir vermitteln Altorientalistik und Keilschriftepigraphie auf höchstem wissenschaftlichen Niveau." Das sehen die Partner:innen auf der irakischen Seite genauso. Inzwischen wird Maul zum Beispiel gebeten, auch Mitarbeitende des irakischen Antikendienstes zu schulen. Sogar die Dekanin der Altertumswissenschaftlichen Fakultät der Universität Mosul zählt zu den Absolventinnen einer Masterclass. "Inzwischen hat mich auch der Wunsch erreicht, unser Lehrprogramm für Studierende der Universität Bagdad zu öffnen", sagt Maul.

Im Grabungshaus leben und lernen Altertumwissenschaftler:innen aus aller Welt. Es ist ihre Trutzburg in einer risikoreichen Umgebung.
Auch in Heidelberg, 3.000 Kilometer Luftlinie vom Ninive-Grabungshaus entfernt, sind die Auswirkungen des Maulschen Engagements spürbar geworden. Die Universität in der Neckarstadt hat im Februar 2024 einen Kooperationsvertrag mit ihrem Pendant in Mosul geschlossen. Darin wird eine intensivierte Zusammenarbeit in der Lehre vereinbart – und dass das Qualifizierungsprogramm "Forschungslabor Alter Orient" bis 2027 nicht mehr nur in Heidelberg stattfinden soll, sondern auch im Irak.
Lange Partnerschaft besiegelt
2027 ist auch das Jahr, in dem die Förderung dieses Projekts durch die VolkswagenStiftung in ihrer inzwischen beendeten Förderinitiative "Weltwissen – Strukturelle Stärkung Kleiner Fächer" endet. Welche Wirkung will Stefan Maul bis dahin erreicht haben? "Mit unseren Lehrkonzepten haben wir den Neuanfang der Altorientalistik im Irak substanziell vorangebracht", sagt Maul. "Durch die Lehrkooperationsvereinbarung zwischen Heidelberg und Mosul gewinnt das Programm an Stabilität und Nachhaltigkeit. Nach Auslaufen der Förderung ist sichergestellt, dass unsere Lehreinheiten im Curriculum der Fakultät für Altertumswissenschaften der Universität Mosul fortgeführt werden. Und zwar mit Fachkräften, die wir bei uns im Grabungshaus und in Heidelberg vorher ausgebildet haben!"

Steinplatte mit einer Keilschrift aus der Zeit des Königs Sanherib, 7. Jh. v. u. Z
Ketzerische Frage: Sind es tatsächlich Assyriolog:innen, die der gebeutelte Irak braucht, um wieder auf die Beine zu kommen? Maul hört die Frage offenbar nicht zum ersten Mal und klärt auf: "In Deutschland gilt Assyriologie als Orchideenfach. Im Irak ist die Perspektive eine völlig andere. Die Bevölkerung besteht aus vielen ethnischen und religiösen Minderheiten, die untereinander zerstritten sind. Es gibt aber ein identitätsstiftendes Narrativ, auf das sich die meisten einigen können: das Erbe Mesopotamiens. Es erfüllt alle mit Stolz, dass auf dem Gebiet des heutigen Irak die erste Hochkultur der Menschheit entstand." Stolz kann auch Stefan Maul auf das blicken, was ihm in Mosul gelungen ist: die jahrtausendealte Geschichte der Region aus dem Schutt zu heben und im Bewusstsein der Menschen wieder lebendig werden zu lassen. Kann man als Altertumsforschender mehr erreichen?