Veranstaltungsbericht

Verschwörungstheorien: Die Faszination der eigenen Wahrheit

#Wissenschaft und Gesellschaft #Wissenschaftskommunikation

Autor: Bruno Brauer

Wie und warum entstehen und verbreiten sich Verschwörungstheorien, welche zentralen Elemente und Symbole finden sich immer wieder? Das 66. Herrenhäuser Gespräch am 10. Juni 2021 befasste sich mit einer gefährlichen Faszination: die der einzig wahren Wahrheit – der eigenen.

"Wir können unseren Augen nicht trauen, und den Ohren auch nicht. Diese verwirrende Welt, die sich da draußen auftut, sie kann doch wohl nicht mehr als Kulissen sein." Die einleitenden Worte von Moderator Dr. Ulrich Kühn, Redakteur bei NDR Kultur, beschrieben – leise karikierend – die Gedankenspur von Zweifeln, Überforderung und der Suche nach Harmonie und Sinn, die den Boden für Verschwörungstheorien bereitet.

Unter dem Titel "Verschwörungstheorien ‒ Was steckt hinter der gefährlichen Faszination?" machten sich fünf Fachleute ihrerseits auf die Suche nach den Parallelen zwischen verschiedenen Verschwörungstheorien, den historischen Bezügen, der Logik hinter mehr oder weniger offensichtlich unlogischen Weltbildern. Was macht Verschwörungstheorien für viele Menschen so attraktiv, obwohl sich die meisten schon bei flüchtigem Hinsehen als krude Konstrukte entpuppen? Wo lauern die Gefahren für die Wissenschaft, wenn eine Theorie der Verschwörung daherkommt, die für sich in Anspruch nimmt, ebenfalls eine Wissenschaft zu sein, eine Wissenschaft des Volkes, mit eigenen Regeln?

Rechtspopulismus und das Leugnen von Corona – ähnliche Muster

Eine der gefährlichsten Wahrheiten sind Halbwahrheiten. Prof. Dr. Nicola Gess, Professorin für Neuere deutsche und Allgemeine Literaturwissenschaft an der Universität Basel und Autorin des Buches "Halbwahrheiten. Zur Manipulation von Wirklichkeit", beschreibt Halbwahrheiten als perfide, weil sie anders als Lügen eine Scheinevidenz herstellten. "Halbwahrheiten untergraben die Unterscheidung von Lügen und Wahrheit, ebnen diese Unterscheidung gleichsam ein." Halbwahrheiten seien komplex und viel schwerer zu widerlegen, sie gingen immer mit einem "Ja, aber…" einher. Dieses "Ja, aber…" sei bei Verschwörungsanhängern "enorm wirkmächtig", weil sie ein bestehendes Weltbild bestätige. 

Aus dem Fachbereich der Korpus- und Computerlinguistik analysieren Prof. Dr. Stefan Evert und der Medienwissenschaftler und Japanologe Prof. Dr. Fabian Schäfer, beide von der Universität Erlangen-Nürnberg, verschwörungstheoretische Zusammenhänge. Die beiden Sprachwissenschaftler suchen mit großen Textmengen nach identischen Mustern zwischen den gesellschaftlichen Gruppen, aus denen sich zum Beispiel die Bewegung der Corona-Leugnenden zusammensetzt. "Wo finden sich Überschneidungen zum rechtspopulistischen Diskurs, wie funktionieren Argumentationslogiken? Sind ähnliche Sprachmuster erkennbar?", beschreibt Schäfer Beispiele für die inhaltliche Arbeit mit dem untersuchten Vokabular. Im Laufe der Diskussion wird sich herausstellen, dass sich die oberflächlich völlig unterschiedlichen Milieus eines sehr ähnlichen Wortschatzes und einer durchaus vergleichbaren Logik bedienen.

Sech Personen sind abgebildet, die per Videocall zusammengeschaltet sind.

Die Podiumsdiskussion zum Thema "Verschwörungstheorien" fand digital im Livestream statt. (Foto: VolkswagenStiftung)

Mythen, irgendwo zwischen Theorie und Ideologie

Aber kann man Verschwörungstheorien überhaupt als solche bezeichnen? Julia Ebner, Autorin und Online-Extremismus-Beraterin, würde eher von "Verschwörungsmythen" sprechen, weil in der Regel in den Erzählungen keine rationalen Muster zu erkennen seien. Ebner recherchierte für ihr jüngstes Buch "Radikalisierungsmaschinen: Wie Extremisten die neuen Technologien nutzen und uns manipulieren" verdeckt in rechtsextremistischen und islamistischen Kreisen. Diese "Mythen", denen sie bei ihren Recherchen begegnet sei, basierten auf Kampagnen, die Internet-Algorithmen strategisch geschickt nutzen, um die Psyche der Menschen zu in die gewünschte Richtung zu manipulieren. Niemand sei gefeit: "Wir haben leider alle das Potential, uns radikalisieren zu lassen."

Autorin und Online-Extremismus-Beraterin Julia Ebner ist zu sehen.

Autorin und Online-Extremismus-Beraterin Julia Ebner. (Foto: VolkswagenStiftung)

Warum wir alle potentiell anfällig für Verschwörungstheorien sind, damit befasst sich Dr. Tobias Schlicht, der als Lichtenberg-Professor an der Fakultät für Philosophie und Erziehungswissenschaft der Ruhr-Universität Bochum forscht. Der Experte für die Philosophie des Bewusstseins und der situierten Kognition untersucht, wie Denken und Lernen von unterschiedlichen sozialen Faktoren und Umweltfaktoren beeinflusst werden. 

Dass die Runde im weiteren Verlauf den Begriff der "Verschwörungstheorie" beibehält, begründet Nicola Gess: "Es spielt eine ganz wichtige Rolle für den Erfolg von Verschwörungstheorien, dass sie eine Mimikry an Wissenschaft betreiben." Die allermeisten Verschwörungstheorien suggerierten, eine "Theorie" zu sein, also zumindest eine Nähe zu Wissenschaft zu haben. Die nachahmende Kulisse an Wissenschaftlichkeit, angereichert mit sogenannten und selbsternannten Fachleuten, sei einer der Erfolgsfaktoren von Verschwörungstheorien. In Wirklichkeit funktionierten diese "Wissenschaften" aber eher wie Erzählungen oder die von Ebner beschriebenen Mythen.

Lichtenberg-Professor Dr. Tobias Schlicht von der Ruhr-Universität Bochum ist zu sehen

Lichtenberg-Professor Dr. Tobias Schlicht von der Ruhr-Universität Bochum. (Foto: VolkswagenStiftung)

Fabian Schäfer erweitert die Frage nach der Begrifflichkeit um den Terminus der Ideologie. "Es gibt Verschwörungsideologien, da sind wir nah beim Rechtspopulismus." Beide seien sich im Postulat einer volksfeindlichen Elite sehr ähnlich. Diese Freund-Feind-Logik ließe sich sprachlich sehr gut analysieren. Von beiden Lagern würden ganz bewusst Begriffe eingesetzt und negativ aufgeladen, Schäfer spricht von Kofferwörtern wie "Integrationslüge".

Was sind die Konstanten von Verschwörungstheorien?

Mythen in der Menschheit sind kein Phänomen der Welt von heute, sie haben eine lange Geschichte. Die Zeiten der Pest, als jüdische Menschen angeblich Brunnen vergiftet hätten, die Cholera, die vermeintlich von Ärzt:innen versucht worden sei, die wiederum Organhandel betreiben wollten.

Der Medienwissenschaftler und Japanologe Prof. Dr. Fabian Schäfer von der Universität Erlangen-Nürnberg ist zu sehen.

Der Medienwissenschaftler und Japanologe Prof. Dr. Fabian Schäfer von der Universität Erlangen-Nürnberg.  (Foto: VolkswagenStiftung)

Mythen in der Menschheit sind kein Phänomen der Welt von heute, sie haben eine lange Geschichte. Die Zeiten der Pest, als jüdische Menschen angeblich Brunnen vergiftet hätten, die Cholera, die vermeintlich von Ärzt:innen versucht worden sei, die wiederum Organhandel betreiben wollten. Krisenzeiten sind Verschwörungszeiten, sagt Julia Ebner. Sie spannt einen weiten Bogen, der zeigt, dass "Mythen ein Gemeinschaftsgefühl erzeugen". Die Österreicherin hat sich intensiv im Umfeld der rechtsextremen QAnon-Bewegung umgehört. Das Familiengefühl auf Basis eines gemeinsamen Feindbildes sei eine wichtige Konstante. "Mythen bringen Menschen zusammen." Jedem Mitglied werde eine Rolle zugeteilt, man sei schnell eines großen Ganzen und trage zu einem übergeordneten Narrativ bei. "Es gibt eine nicht zu unterschätzende Anzahl von Menschen, die das aus Spaß und nicht aus böser Absicht machen", vermutet Fabian Schäfer einen spielerischen Hintergrund. Was ist ironisch gemeint, was ernst – bei der Bewertung von sprachlichen Inhalten sei das für Analytiker ein Problem.

Was sind die Konstanten, die eine Verschwörungstheorie ausmachen? Die Zutaten einer Verschwörungstheorie sind für Tobias Schlicht: eine kleine Gruppe mit einem Ziel, zum Beispiel Weltherrschaft, konspiratives Handeln, dazu eine Reduktion von Komplexität inklusive der Stigmatisierung einzelner Gruppen. Nicola Gess definiert ähnlich, ihre fünf Merkmale von Verschwörungstheorie: Nichts ist, wie es scheint, alles hängst miteinander zusammen, nichts geschieht durch Zufall, eine klare Verteilung von Gut und Böse sowie die heroische Selbststilisierung. Die Einteilung der Welt in Gut und Böse spiele auch bei QAnon "eine wichtige Rolle", ergänzt Julia Ebner. Leider sei es so, dass die sozialen Medien dieses Schwarz-Weiß-Denken beförderten, indem extreme Inhalte, zum Beispiel Empörung, durch Algorithmen bevorzugt behandelt würden.

Mythen im Hypothesenraum fast beliebig erweiterbar

Verschwörungstheorien kombinieren unterschiedliche Mythen. Migrationsgeschehen und Corona-Pandemie würden gern einer Elite zugeordnet, sagt Julia Ebner: "Dabei gibt es innerlich in diesen Erzählungen kaum mehr Konsistenz. Da verbindet sich alles: Aliens, die NASA, Hollywood, die Clinton-Familie, die Familien der Hochfinanz, die schon immer unter Verdacht standen wie die Rothschilds oder auch Soros", Ebner spricht von einem "antisemitischen Twist". Wer an eine dieser Theorien glaube, sei auch anderen nicht abgeneigt. "Es gibt eine Verschwörungsmentalität."

Wie schwierig es bisweilen ist, Wissenschaft von Verschwörungstheorien abzugrenzen, beschreibt Stefan Evert. Denn Wissenschaft sei suchend, arbeite mit Annahmen und offenen Fragen – das mache sie angreifbar. Nicht zu unterschätzen sei, dass es innerhalb der Wissenschaft inzwischen einen Hang zur Vereinfachung gebe, um die Forschungsergebnisse medial besser verkäuflich zu machen. "Narrative ersetzen Logik – eine Falle!" Den Verschwörungstheoretiker:innen stünde dagegen einen unglaublich großer Hypothesenraum zur Verfügung. "Diese Erzählungen sind nie geschlossen, sie lassen sich beliebig erweitern – wie ein Gerücht", so Fabian Schäfer, deshalb sei diesen Geschichten auch so schwer beizukommen.

Der Sprachwissenschaftler Prof. Dr. Stefan Evert von der Universität Erlangen-Nürnberg ist zu sehen´.

Der Sprachwissenschaftler Prof. Dr. Stefan Evert von der Universität Erlangen-Nürnberg (Foto: VolkswagenStiftung)

Verschwörungstheorien: Tatsachen werden passend gemacht

Beide, Forschende und Menschen, die an Verschwörungstheorien glauben, nehmen für sich in Anspruch, Wahrheitssuchende zu sein. Aber wer sucht welche Wahrheit? Nicola Gess vermutet bei den Verschwörungstheoretiker:innen einen Wahrheitsbegriff mit einer offenbarungsähnlichen und "wahnsinnig dogmatischen" Struktur. In der Verschwörungstheorie stehe das Ergebnis bereits fest, die Tatsachen würden entsprechend angepasst. 

Was wir jetzt und in der Vergangenheit erlebt haben – die Unübersichtlichkeit an Informationen in Verbindung mit dem Wunsch nach Übersichtlichkeit – wie lautet die Lösung für die Zukunft? "Es wird sich bei den nächsten Krisen wiederholen", Julia Ebner ist mit Blick auf die Geschichte wenig optimistisch. "Wir sind offenbar nicht so rational, wie wir glauben", pflichtet Tobias Schlicht bei. Nicola Gess gibt zu bedenken, dass man Verschwörungstheorien – positiv gesehen – auch als "fehllaufende Form von Sozialkritik" verstehen könnte. Das wäre eine der Stellschrauben im Kampf gegen Verschwörungstheorien. So endet die abendliche Diskussionsrunde nicht in der Dystopie, sondern mit der Utopie einer suchenden, aber mehrheitlich konstruktiven, tendenziell konsensualen Gesellschaft.

Die Literaturwissenschaftlerin Prof. Dr. Nicola Gess von der Universität Basel ist zu sehen.

Die Literaturwissenschaftlerin Prof. Dr. Nicola Gess von der Universität Basel (Foto: VolkswagenStiftung)