Wie lernen Kinder sprechen?
Die Linguistin Birgit Hellwig erforscht den Spracherwerb von Kleinkindern – vor allem an Qaqet, einer bedrohten Sprache Papua-Neuguineas.
Fast 14.000 Kilometer muss Birgit Hellwig zum Ort ihrer Feldforschung nach Raunsepna auf einer Insel des Bismarck-Archipels zurücklegen. Aber wenn die Linguistikprofessorin in ihrem Kölner Büro den Schreibtischstuhl um 180 Grad dreht, dann ist ihr dieser schöne Flecken Erde nördlich von Australien plötzlich sehr nahe. Wenn auch nur in Form von ein paar niedlichen Lego-Figürchen in einem Regal: ein Vater mit drei Kindern, im Hintergrund ein Häuschen und mittendrin Huhn und Schwein. "Meine Mitarbeiter haben das für mich gebastelt", sagt Birgit Hellwig und lächelt. Denn die Doktoranden und Doktorandinnen und die studentischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wissen: Ab und zu bekommt ihre Chefin Sehnsucht nach dem kleinen Dorf mitten im Regenwald in der Provinz East New Britain, das seit knapp zehn Jahren einen festen Platz in ihrem Forschungsprojekt über Sprachdokumentation und Psycholinguistik einnimmt.
Forschung als Abenteuer ohne Stromanschluss und Internet, und die nächste Stadt ist fast eine Tagesreise entfernt: In dem abgeschiedenen 1000-Einwohner-Ort untersuchen Birgit Hellwig und ihr Team in einer Langzeitstudie, wie zwei- bis vierjährige Dorfkinder ihre Muttersprache Qaqet lernen. Jedes Jahr kehren Teammitglieder der Universität Köln für einige Wochen oder auch Monate den Rücken und reisen, mit Aufnahmegeräten und kleinen Solarpanels als Stromproduzenten ausgestattet, nach Raunsepna. Die Lego-Figürchen – sie stehen stellvertretend für Dutzende Dorfbewohner, die die Arbeit von Birgit Hellwig und ihrem Team vor Ort unterstützen und die im Laufe der Jahre zu Freunden geworden sind.
Qaqet aus der Familie der Bainingsprachen, die nur im Osten New Britains beheimatet ist, gehört zu den weltweit etwa 3000 Sprachen, die als bedroht gelten. Sie werden nur noch von einigen Tausend Menschen gesprochen und sind oft nur mündlich überliefert, das heißt: nie verschriftlicht worden. Qaqet sprechen noch etwa 15.000 Menschen. "Weil in der Region die jüngere Generation zunehmend Tok Pisin, die Hauptsprache Papua-Neuguineas, spricht, wird es in absehbarer Zeit immer weniger Angehörige der Qaqet geben, von denen die Kinder ihre Heimatsprache lernen können", sagt Birgit Hellwig.
Angefangen hat sie fast bei Null, nur auf Grundlage einiger vorhandener Quellen über die Sprache. Um ein Sprachkorpus erstellen zu können, musste sie mit Hilfe der Einheimischen Qaqet zunächst Laut für Laut nach Gehör lernen. Sie dokumentierte das Gehörte und verfasste später daraus die erste Qaqet-Grammatik. Im Dorfalltag verständigt sich Birgit Hellwig mit den erwachsenen Dorfbewohnern jedoch auf Tok Pisin – "für anspruchsvollere Konversation reichen meine Qaqet-Kenntnisse nicht aus", sagt sie und lacht.
Die Wissenschaftlerin und ihr Team gehen einer Fülle von Fragen unter psycholinguistischen Gesichtspunkten nach: Was hören Kinder von ihren Eltern, von anderen Erwachsenen, von älteren Geschwistern und wie wirkt sich dies auf ihr Sprechen aus? – Etwa im Vergleich zu Kindern in den sogenannten WEIRD-Ländern, was für "Western, Educated, Industrialized, Rich, Democratic" steht. Was sprechen sie, und vor allem: Wie lernen sie?
"Die Eltern betreiben Landwirtschaft und verbringen viele Stunden auf ihren Feldern. Die Kleinsten sind dann in der Obhut ihrer Geschwister, die oft selbst nur ein paar Jahre älter sind. Deshalb kommunizieren sie vor allem mit Bruder und Schwester und lernen ihre ersten Worte und Sätze von ihnen." Es gibt also kein Korrektiv durch die Eltern oder Großeltern, oder, wie in westlichen Ländern, auch durch Erziehende in Kitas oder Kindergärten die sich in Gegenwart der kleinen Kinder im Alltag deutlich stärker um eine korrekte Sprache bemühen, als es die älteren Geschwister tun.
Von Fall zu Fall ließ sich auch beobachten, dass Kleinkinder nicht direkt, sondern nur über ihre älteren Geschwister mit den Eltern kommunizierten. All das dokumentierten Hellwig und ihr Team in einer Fülle von Video- und Audiodateien: 400 Stunden Filmmaterial entstanden in den letzten Jahren. Um ein Minimum an Befangenheit und ein Maximum an Authentizität zu garantieren, ließen die Wissenschaftler die Qaqet-Familien die meisten der Film- und Audioaufnahmen selbst machen.
Mit den Projektmitteln werden deshalb nicht nur die hohen Reisekosten, Ausrüstung für die Feldforschung und Kosten für Projektmitarbeiter in Köln finanziert, sondern auch die Qaqet-Mitarbeiter, die in Abwesenheit der Kölner Wissenschaftler weiter filmen und dokumentieren. Für diese Aufgaben mussten sie zunächst angeleitet werden. Hellwigs Forschungsprojekt wird seit 2014 und noch bis 2022 mit Mitteln der VolkswagenStiftung unterstützt, ihre Lichtenberg-Professur wurde von der Universität Köln – wie es Ziel der Förderung ist - mittlerweile in eine unbefristete Stelle umgewandelt. Beides eine Anerkennung für die Arbeit von Birgit Hellwig, die in Köln mit einem ihrer anderen Projekte in dem Sonderforschungsbereich "Prominence in Language" vertreten ist.
Aus mehreren Gründen sei die Untersuchung in East New Britain wegweisend, erläutert Hellwig: "Fast alle verfügbaren Studien zum kindlichen Spracherwerb orientieren sich ausschließlich an in der westlichen Welt sozialisierten Kindern. Und dort sind es dann in den meisten Fällen Kinder aus einem akademisierten Umfeld, die im Zentrum der Untersuchungen stehen." Deshalb schließt Hellwigs Arbeit eine Lücke, die dokumentiert, wie sich der Spracherwerb in einer Gesellschaft vollzieht, in der es zwar Schulen vor Ort gibt, in der aber Bücher, Bilderbücher und Schriftsprache nicht selbstverständlicher Bestandteil des Alltags sind – und die Eltern nicht die Hauptbezugspersonen.
"Weil Raunsepna so abgeschieden mitten im Dschungel liegt, wachsen die Kinder tatsächlich in ihren ersten Lebensjahren monolingual mit Qaqet auf, bis sie auf eine Schule gehen. Erst dann lernen viele von ihnen Tok Pisin." Deshalb lässt sich dort der Spracherwerb so gut dokumentieren. In Kamanakam, einem Küstenort, in dem Birgit Hellwig und ihr Team ebenfalls Feldforschung betrieben, sieht die Situation anders aus – "dort wird sehr viel Tok Pisin gesprochen, auch hin und wieder Englisch, die Kinder wachsen multilingual auf", erläutert die Wissenschaftlerin. In Kamanakam ist Qaqet deshalb nicht mehr die dominierende Sprache.
Abgesehen von den augenfälligen Unterschieden gilt das Augenmerk der Forscherin auch den Gemeinsamkeiten zwischen Qaqet- und WEIRD-Kindern. Denn daraus lassen sich universelle Aspekte des Spracherwerbs im frühkindlichen Alter ableiten. So beobachteten Birgit Hellwig und ihre Kollegen auch bei den Qaqet, dass Erwachsene und ältere Kinder, wenn sie mit den Kleinen sprechen, kurze, korrekte und vollständige Sätze formulieren. Sie sprechen langsamer, machen längere Pausen, verwenden häufig Fragen ("Wo ist…?", "Was ist…?") oder Imperative ("Hol'…", "Schau…" etc.). Und ebenso wie bei westlichen Eltern verändert sich ihre Stimme, sie wird höher, wenn kleine Kinder angesprochen werden. Was hingegen bei den Qaqet fehlt, ist der typsiche "Baby Talk" ("Wauwau" für Hund etc.), den westliche Erwachsene zuweilen benutzen. "Was die Kleinen zu hören bekommen und woraus sie ihren Wortschatz aufbauen, ist keine kindgerichtete, sondern eine mitgehörte Sprache", sagt Birgit Hellwig.
Die Linguistin hat bis 2014 einige Jahre an der australischen La Trobe-Universität Melbourne gelehrt und geforscht. Schon damals hat sie sich mit Qaqet beschäftigt – von Australien aus ist Papua Neuguinea vergleichsweise nur einen Katzensprung entfernt. Sie möchte den Menschen dort, die ihre Arbeit über die Jahre begleitet und unterstützt haben, etwas zurückgeben und hat deshalb eine Crowdfunding-Aktion gestartet: Mit den so eingeworbenen Mitteln sollen Schulbücher für die Kinder entwickelt und gedruckt werden. Bücher in Qaqet-Sprache gibt es bislang nicht – nur eine Übersetzung der Bibel. Birgit Hellwig: "Die Qaqet haben selbst sehr großes Interesse daran, dass ihre Sprache erforscht wird, dass es Bücher gibt, mit denen die Kinder in ihren ersten Schuljahren die Muttersprache lesen und schreiben lernen können."