Eine Frau steht vor großen Gemälden.
Story

Provenienzforschung: Die Geschichten hinter den Dingen

Autor: Klaus Lüber

Eintauchen in Archive, die Wanderung von Museumsobjekten durch Zeiten und Kontexte nachzeichnen – so beschreibt die Provenienzforscherin Claudia Andratschke ihre Arbeit. Ein Portrait.

"Willst Du den jetzt bis zu seinem Ursprung zurückverfolgen?" Als Claudia Andratschke 2013 einen ihrer ersten Fälle bearbeitet, konnte sich manch eine Kollegin oder ein Kollege eine spitze Bemerkung nicht verkneifen. Die promovierte Kunstwissenschaftlerin und Historikerin hatte gerade eine unbefristete Anstellung im Landesmuseum Hannover angetreten. Seit 2008 forschte sie schon dort, mit dem Fokus auf NS-Raubgut, das sie im Bestand der Landesgalerie aufspürte. Doch jetzt war sie auf einmal verantwortlich für die Prüfung sämtlicher Bestände und Neuerwerbungen aller Fachbereiche. Und so landete auch eine Anfrage aus der Naturkunde auf ihrem Schreibtisch. Andratschke solle doch bitte die Provenienz einer Dauerleihgabe überprüfen, die man nun käuflich erwerben wolle: nämlich das Fossil eines 190 Millionen Jahre alten Fischsauriers. 

"Zuerst dachten alle, das kann ja kein großes Problem sein. Wir hatten den Saurier ja schon so lange als Leihgabe. Und überhaupt, was macht eine Provenienz-Prüfung bei einem Fossil überhaupt für einen Sinn? Bis wohin soll man das denn zurückverfolgen?", erinnert sie sich. Was dann folgte, damit hatte wohl auch Andratschke nicht gerechnet: "Wir wussten nur, dass das Objekt von einem Schweizer Händler in den Besitz der Kurt und Ernst Schwitters Stiftung gelangte. Von dieser hatten wir das Fossil dann als Dauerleihgabe erhalten. Also begann ich zu recherchieren und zu überlegen: Wo in Europa sind solche Funde überhaupt wahrscheinlich?" Durch hartnäckigste Detektivarbeit, die sich schließlich über ein halbes Jahr hinzog, wurde Andratschke schließlich an der Westküste Englands fündig. Sie spürte sogar denjenigen Menschen auf, der das Fossil entdeckt hatte. "Das war ein älterer Herr, der Führungen in dieser Region leitete." Da dieser kein Internet hatte, wurden ihm Andratschkes Mails von einem Nachbarn ausgedruckt und ans Haus gebracht. "Das war schon sehr speziell", erinnert sie sich schmunzelnd.

Die Spuren eines Kunstwerks

Aber am Ende, so sagt sie, habe sich der lange Atem gelohnt. "Wir hatten damit nicht nur ausgeschlossen, dass das Fossil illegal gehandelt wurde, sondern konnten sogar seinen genauen Fundort ermitteln." Eine für die Forschung hochrelevante Information: "Was nützt Ihnen ein solcher Fund in der Forschung, wenn sie nicht wissen, woher er stammt?" Das zweieinhalb Meter große Urvieh, ein sogenannter Ichthyosaurier, hing lange im Wohnzimmer von Ernst Schwitters, dem Sohn des berühmten Künstlers Kurt Schwitters, bevor es in den Bestand der 2002 gegründeten Kurt und Ernst Schwitter Stiftung überging und seinen Weg nach Hannover fand.

Alte Holzfiguren.

Das Landemuseum Hannover beherbergt eine Vielzahl an figürlichen Exponaten.

Wie eine Detektivin den Spuren eines Kunstwerks durch verschiedene Epochen zu folgen, die Geschichte hinter den Bildern freizulegen – das begeistert Claudia Andratschke schon seit ihrer Jugend. Für Kunst und Geschichte interessiert sie sich bereits in der Schule, wählt beide Fächer als Leistungskurse in der Oberstufe. Trotzdem will sie nach dem Abitur nichts überstürzen, arbeitet zunächst an der Renovierung eines alten Fachwerkhauses mit und absolviert ein Praktikum als Restauratorin. "Wer acht Stunden am Stück schleift und Schellack-Polituren aufträgt, hat viel Zeit, über seine Zukunft nachzudenken", erzählt sie lachend. Die Entscheidung fällt schließlich für ein Studium der Kunstgeschichte in Kombination mit mittelalterlicher und neuerer Geschichte. Schnell kommt auch Rechtswissenschaften als Fach hinzu. "Mich hat das zum einen fasziniert, weil man da so präzise und formal arbeitet. Zum anderen dachte ich mir, das kann nicht schaden, wenn man später einmal in die Richtung Kunsthandel geht."

Wanderung durch Zeiten und Kontexte

Auch in ihrem Hauptfach Kunstgeschichte war Andratschke eher an einem nüchternen, wissenschaftlichen Blick interessiert, als an der Ergründung der emotionalen Wirkung, die Kunstwerke bei ihren Betrachtern auslösen. "Natürlich kann man sich fragen, was man fühlt, wenn man vor einem Meisterwerk steht. Ich dachte mir dann immer: Das tut aber noch nichts zur Sache. Ich habe mich viel mehr für die wissenschaftlichen Kriterien und Methoden interessiert, mithilfe derer man es analysieren und einordnen kann." Andratschke ist fasziniert von der Art und Weise, wie Kunstwerke durch Zeiten und Kontexte wandern, wie sich etwa Skulpturen und Bilder von ihren religiösen Ursprüngen lösen, neue Funktionen zugeschrieben bekommen, dadurch zum Teil auch instrumentalisiert werden. "Ich kann zwar keine Zeitreise machen, aber mich in die überlieferten Quellen stürzen und eine Geschichte rekonstruieren." 

Foto eines alten Gemäldes.

Auch mit der Provenienz von Gemälden befasst sich Claudia Andratschke häufig.

Dass dies bislang akribische Archivarbeit bedeutet, stört Andratschke nicht. Im Gegenteil, sie liebt die Arbeit an den Quellen. Schon nach ihrer Zwischenprüfung an der Universität Braunschweig beginnt sie, als studentische Hilfskraft zu arbeiten. Die Wissenschaft macht ihr Spaß, sie wechselt nach Tübingen für ihren Abschluss und promoviert dort auch – unterstützt von der Studienstiftung des deutschen Volkes. Wie der weitere Karriereweg verlaufen könnte, ist zunächst unklar, eine Professorin bezeichnet ihren Status als "ein wenig zwischen den Stühlen" – nicht ganz Historikerin, aber eben keine "echte" Kunstwissenschaftlerin, da sie für dieses Fach wiederum ungewöhnlich stark historisch arbeitet. So ist sie zunächst als freie Kunsthistorikerin tätig und nimmt das Angebot des Landesmuseums Hannover an, eine komplette Revision aller Gemälde und Skulpturen durchzuführen.

"Meine Aufgabe war es, wirklich jedes Objekt an seinem Standort aufzusuchen und mit den Daten aus den Datenbanken und Inventaren abzugleichen." Im Anschluss erhielt Andratschke ihre erste, befristete Anstellung im Bereich Provenienzforschung. "Das hat mir dann so viel Spaß gemacht, dass ich wusste: Das will ich auch in Zukunft machen." An ihre frühere Professorin schreibt sie, sie "habe ihren Platz zwischen den Stühlen jetzt gefunden".

Politische Dynamik

Inzwischen ist Claudia Andratschke einer der engagiertesten Provenienzforscherinnen des Landes. Und das ist eigentlich auch kein Wunder. Denn Provenienzforschung beschäftigt sich mit genau den Dingen, die auch Andratschke seit ihrem Studium faszinieren: das detektivische Forschen nach der Herkunft eines Objektes. Ziel dabei ist es, diese möglichst lückenlos zu dokumentieren. Erst dann kann ausgeschlossen werden, dass das Objekt auf nicht rechtmäßige Weise erworben oder weiterverkauft worden ist. Lange bildete sogenanntes NS-Raubgut einen besonderen Schwerpunkt, aktuell spielen koloniale Kontexte eine zunehmend wichtige Rolle.

Eine Frau sitzt vor Figuren in einem Regal.

Claudia Andratschke im Landesmuseum Hannover. Mit den Quellen von Kulturgütern arbeitet sie besonders gerne.

Claudia Andratschke ist nicht nur am Landesmuseum Hannover aktiv. Seit 2015 leitet und koordiniert sie zudem das vom Niedersächsischen Ministerium für Wissenschaft und Kultur initiierte Netzwerk Provenienzforschung in Niedersachsen – mit rund 60 Mitgliedern und Partnern aus Museen, Bibliotheken, Archiven und Verbänden. Außerdem ist sie Mitglied im Arbeitskreis Provenienzforschung e. V., dort unter anderem in der Arbeitsgruppe "Koloniale Provenienzen". Genau dieser Schwerpunkt beschäftigte sie auch als Koordinatorin des Verbundforschungsprojekts Provenienzforschung in außereuropäischen Sammlungen und der Ethnologie in Niedersachsen (PAESE), das von 2018 bis 2022 von der VolkswagenStiftung gefördert wurde. Das Hauptziel des Projekts war es, die Grundlage für eine zu diesem Zeitpunkt noch nicht vorhandene Forschungsinfrastruktur im Bereich der Provenienzforschung zu schaffen und dabei den Fokus auf Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten in Niedersachsen zu legen. "Man hatte es lange nur mit Insellösungen zu tun. Vielleicht gelegentlich mal eine Ausstellung, aber oft auch mit ganz unterschiedlichen Fragestellungen."

Wie viele ihrer Kolleginnen und Kollegen ist auch Andratschke dankbar für die politische Dynamik, die das Thema "Koloniales Erbe" durch den 2018 veröffentlichen Saar-Savoy-Bericht bekommen hat. Beauftragt vom französischen Präsidenten Emmanuel Macron hatte der senegalesische Wirtschaftswissenschaftlers Felwine Sarr gemeinsam mit der französischen Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy in französischen Museen zusammengetragen, welche Kunstwerke in kolonialem Kontext in französische Museen verbracht wurden und deshalb eigentlich zurückgegeben werden müssten. Sie kamen auf sage und schreibe 90.000 Objekte. "Seitdem hat unsere Arbeit natürlich noch einmal eine ganz andere Aufmerksamkeit", so Andratschke. 

Ah, so sieht das also aus!

Und das sei gut so, denn es gäbe noch viel zu tun. Vor kurzem hatte Andratschke Gäste aus Tansania zu Besuch in Hannover. "Die standen dann irgendwann vor einem Objekt und riefen: Ahh, so sieht das also aus! Das ist bei uns aus vielen Geschichten bekannt, aber gesehen haben wir das noch nie!" Nach solchen Begegnungen merke sie dann immer, wie grundsätzlich man das Thema noch angehen müsste, wie fundamental der Kolonialismus in die Kulturen vieler Ethnien eingegriffen habe, erzählt Andratschke weiter. "Dabei geht es nicht einmal nur um Materielles." Schließlich sei ja auch Wissen transferiert worden, von Kulturtechniken zur Herstellung von Objekten bis hin zu pflanzlichen Wirkstoffen, welche die Pharmaindustrie zur Entwicklung von Medikamenten genutzt hat. 

Das Staunen über den Verbleib von Kulturgütern beschränkt sich dabei nicht nur auf die großen Sammlungen. "Besonders perplex bin ich immer bei den Besuchen kleinerer Museen, wenn selbst dort jemand etwas erkennt, das aus seiner Region stammt. Ich staune dann manchmal regelrecht mit den Besucherinnen und Besuchern: Was, bis hierhin haben es die Objekte geschafft?" Umso wichtiger sei es, diese bekannter zu machen. Etwa mithilfe einer öffentlich zugänglichen Datenbank, wie sie das Forschungsprojekt PAESE entwickelt hat und die inzwischen vom Netzwerk Provenienzforschung in Niedersachsen weiter finanziert wird. Und mit noch mehr öffentlicher Aufmerksamkeit. An beidem arbeitet Claudia Andratschke mit Hochdruck.

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