Sensible Provenienzen – Die Spur der Gebeine
Erst seit einigen Jahren stellt sich Deutschland ganz konkret seiner Verantwortung als ehemalige Kolonialmacht. Neben geraubten Kulturgütern rücken nun auch menschliche Überreste in den Blick für Restitutionen – so an der Universität Göttingen.
Als der Anatom Georg Thilenius 1897 auf der Insel Maui mehrere Schädel und Skelette ausgrub, verstieß er damit gegen ein hawaiianisches Verbot: Menschliche Überreste aus Begräbnisplätzen zu entnehmen, war und ist ein Tabu. Thilenius (1868–1937) setzte sich darüber hinweg, und die Gebeine gelangten später, 1953, über das damalige Hamburger Museum für Völkerkunde in die Anthropologische Sammlung der Georg-August-Universität Göttingen. Im Besitz der Universität befindet sich auch die berühmte Schädelsammlung des Anatomen und Anthropologen Johann Friedrich Blumenbach (1752–1840). Sie lagert heute in unscheinbaren Pappboxen auf Regalen und in Schränken.
Dass man solchen Beständen jetzt besondere Aufmerksamkeit schenkt, hat viel mit der öffentlichen Debatte über Deutschlands unrühmliche Rolle als Kolonialmacht und bei der Aneignung von Kulturgütern zu tun: Die Debatte schob nicht nur etwa den Prozess zur Rückgabe der berühmten Benin-Bronzen an Nigeria an, sondern sensibilisierte auch für Sammlungen menschlicher Überreste und deren Entstehungsgeschichte. Skelette, Schädel und Knochen gelangten in den beiden zurückliegenden Jahrhunderten oft unter unklaren, häufig auch gewaltsamen Umständen als Forschungsmaterial in den Besitz großer deutscher Museen und Universitäten.
In Göttingen stehen derzeit insgesamt 1500 menschlichen Überreste (wieder) im Mittelpunkt des Interesses Forschender. Ihre Arbeit wird von der VolkswagenStiftung mit rund einer Million Euro finanziert. Das Projekt "Sensible Provenienzen" hat zum Ziel, die Herkunft zu klären und Kontakte aufzubauen, um die Gebeine an jene Länder und Gemeinschaften zurückzugeben, denen sie geraubt wurden.
Ein zentraler Aspekt des bis zum Sommer 2023 laufenden Forschungsvorhabens ist deshalb die Beteiligung von Fellows aus Neuseeland, Palau, Tansania, Kamerun, Samoa und Papua-Neuguinea – jenen Ländern, aus denen Schädel und Knochen der akademischen Sammlungen stammen. Einige dieser Partner:innen waren im Herbst 2022 für mehrere Monate in Göttingen, zwei weitere folgen kurz vor dem Ende des Projekts.
"Herauszufinden, ob die menschlichen Überreste aus Gräbern ausgegraben wurden und woher genau sie stammen, ist eine Mammutaufgabe, der wir uns jetzt seit anderthalb Jahren widmen. Deshalb ist es wichtig, über die beteiligten Fellows eine Brücke zu den in Frage kommenden Communitys in den jeweiligen Ländern zu bauen, diese über die in Göttingen vorhandenen Gebeine zu informieren, Vertrauen aufzubauen und die weiteren Schritte zusammen abzustimmen", sagt Dr. Christian Vogel, Referent für Wissensforschung an der Zentralen Kustodie der Universität Göttingen.
Ein erster Erfolg: Die Restitution von 13 iwi kūpuna – so lautet die hawaiianische Bezeichnung für die Gebeine der Ahnen –, die im Rahmen einer feierlichen Zeremonie im Februar 2022 wieder an ihre hawaiianischen Nachfahren zurückgegeben wurden. Dafür war eine Abordnung aus Hawaii nach Deutschland eingeladen worden; auch der amerikanische Konsul aus Hamburg nahm auf Einladung von Universitätspräsident Metin Tolan an der Zeremonie teil. (Ein Video der Zeremonie ist auf dem YouTube-Kanal der Universität Göttingen unter https://youtu.be/ghgZECfEicw zu finden.)
Für die Gebeine aus Hawaii, Tansania und Neuseeland konnten durch die interdisziplinäre Zusammenarbeit im Projekt die Herkunfts- und Erwerbskontexte schon weitgehend ermitteln werden. Die Wissenschaftler:innen haben die sich hauptsächlich auf Archivmaterial stützende historisch-kritische Provenienzforschung durch einen anthropologisch-anatomischen Forschungszugang erweitert und sich mit anderen Einrichtungen wie dem Museum am Rothenbaum (ehemals Museum für Völkerkunde) in Hamburg oder dem Grassi Museum in Leipzig vernetzt; diese stellten zum Beispiel Dokumente wie Tagebuchaufzeichnungen aus ihren eigenen Archiven zur Verfügung.
Dadurch ließ sich ein Weg der Gebeine ganz konkret rekonstruieren: Mitte des 19. Jahrhunderts überwies ein Schiffsarzt vier iwi kūpuna an das Anatomisch-Chirurgische Institut in Braunschweig. Über den Gründungsdirektor des dortigen Naturhistorischen Museums gelangten sie in die Hände eines Göttinger Medizinstudenten, der sie schließlich 1934 dem Anatomischen Institut der Universität Göttingen übergab.
Mit der Zusammenarbeit von Historiker:innen, Kulturwissenschaftler:innen und Kulturanthropolog:innen will das Göttinger Vorhaben langfristig Maßstäbe für die Aufarbeitung der Herkunft und die Restitution von human remains setzen. Wichtig ist den Forschenden, dass der eurozentristische Blickwinkel der ehemaligen Kolonialmächte überwunden wird, vor allem auch durch die Kooperation mit den Fellows der Herkunftsregionen. Denn nicht nur die Aneignung und Sammlung der menschlichen Überreste ist ein sensibles Thema, sondern auch deren Rückgabe. Fellow Alma Simba, Masterstudentin aus Tansania, brachte die aktuelle europäische Herangehensweise in einem Vortrag in Göttingen kritisch auf den Punkt: "Nur weil ihr diese Überreste jetzt loswerden wollt, heißt das noch lange nicht, dass jemand sie nehmen muss." Denn: Gebeine wieder zurückzunehmen, die 100 oder sogar 200 Jahre außerhalb ihrer Gräber über der Erde gelagert wurden, sei unter Umständen schlechtes Karma für eine Community, erläutert Kulturanthropologin Regina Bendix, Professorin in Göttingen. Zum anderen sei oft gar nicht klar, zu welcher heutigen Community sie denn überhaupt gehörten.
Genau das macht eine Rückgabe der Gebeine vor allem in afrikanischen Ländern zu einer Herausforderung für die Forschenden: Während für die Restitution von Kulturgütern meist Nationalmuseen, Landes- oder regionale Regierungen Ansprechinstitutionen sind, sind es für die menschlichen Überreste die einzelnen Communitys, denen diese Toten einst angehörten.
"Im Austausch der Fellows untereinander soll deshalb ein Best-Practice-Modell entwickelt werden, an dem sich sowohl Institutionen wie interessierte lokale Gemeinschaften orientieren können, um ihre koloniale Geschichte aufzuarbeiten", sagt Bendix. Sie untersucht und dokumentiert die interkontinentale und interdisziplinäre Zusammenarbeit in dem Projekt. Ein Reiz der gemeinsamen Arbeit besteht aus ihrer Sicht auch darin, dass die Fellows auf verschiedenen Sprossen der akademischen Karriereleiter stehen und so in mehrfacher Hinsicht von den Erfahrungen der anderen profitieren: Das gelte von den Masterstudierenden über Doktorand:innen bis hin zu den Mitarbeitenden in Nationalmuseen.
Wie unterschiedlich die Bedingungen je nach Region sind, erläutert Christian Vogel: "Einige Länder wie etwa Neuseeland sind bereits sehr weit fortgeschritten, was die Provenienzforschung und Rückgabe von menschlichen Überresten anbelangt. Dort setzt sich die Regierung stark dafür ein und fördert entsprechende Vorhaben, sodass bereits restituiert werden konnte. Es gibt klare Routinen wo man anfragt und wie, und was danach mit den human remains geschieht. Andere, wie der Inselstaat Palau, beginnen gerade damit, solche Routinen zu entwickeln. Und wieder andere, wie etwa Kamerun oder Tansania, stehen noch ganz am Anfang."
"Deshalb war das Fellowship eine wichtige und wunderbare Gelegenheit, sich mit den anderen auszutauschen", bestätigt Fellow Mikaél Assilkinga, Kulturwissenschaftler aus Kamerun. Er ist derzeit im Rahmen einer Doppelpromotion Doktorand an der kamerunischen Dschang University und an der Technischen Universität Berlin, wo er in dem DFG-Projekt "Reverse History of Collections. Ein annotierter Atlas des materiellen Erbe Kameruns in deutschen Museen" forscht. In seiner Dissertation beschäftigt er sich mit den Bedeutungen von kamerunischen Kulturgütern in deutschen Museen. Ein wichtiger Aspekt seiner Arbeit in Göttingen: Die Anbahnung von Kontakten zwischen deutschen Museen und Heimatvereinen in Kamerun, um den Weg für eine Rückführung von menschlichen Überresten an die betreffenden Gemeinschaften zu ebnen.
Die große Herausforderung ist aus seiner Sicht, dass durch die Kolonialmächte willkürlich Grenzen verschoben wurden und die anschließende Aufteilung der Länder nicht mehr der Aufteilung der lokalen Bevölkerungsgruppierungen entsprach. "Das führte dazu, dass Überreste, die man findet und die kulturell aus Kamerun stammen, manchmal zu einer Community gehören, die heute in einem anderen Land lebt", skizziert Assilkinga das Problem. Und dass es sich in Kamerun wie auch in Tansania, anders als etwa in Neuseeland oder im kleinen Inselstaat Palau, um eine Vielzahl von Communitys handelt, macht die Angelegenheit noch komplizierter.
Fellow Maximilian Chami, spezialisiert auf das Fachgebiet Kulturelles Erbe, Senior Researcher und Konservator am National Museum of Tansania in Daressalaam, sagt: "In vielen Communitys muss überhaupt erst einmal bekannt gemacht werden, dass während des Kolonialismus Knochen oder Schädel verstorbener oder getöteter Ahnen nach Europa gebracht wurden. Der nächste Schritt ist dann, gemeinsam zu überlegen, wie eine Rückführung aus den akademischen Sammlungen konkret umgesetzt werden könnte. Es ist nicht einfach, weil in Tansania viele verschiedene Akteure - auch von Behördenseite - dafür angehört werden müssen." Chami kehrte deshalb während seiner Fellow-Zeit für Gespräche mit verschiedenen Akteur:innen in Tansania für ein paar Wochen zurück in seine Heimat.
Dass die Universität Göttingen einen solchen Prozess von sich aus anstößt, ist nicht selbstverständlich. Das betont auch Tarisi Vunidilo, fidschianische Archäologin und Anthropologin: "Es ist etwas Besonderes, dass sich eine Universitätssammlung oder ein Museum proaktiv an die betroffenen Länder wendet und sie ausdrücklich bittet, am Standort der Sammlungen die Details zur Herkunft gemeinsam zu erforschen." Noch vor 20 Jahren seien viele große Museen wie etwa das British Museum in London lediglich reaktiv mit Anfragen zur Provenienzforschung oder Restitution umgegangen: Keines dieser Museen kam von sich aus auf die Idee, seine Sammlungen auf geraubte Kulturschätze oder Knochen untersuchen zu lassen.
Vunidilo, Professorin an der University of Hawaii in Hilo, hat sich auf indigene Museologie und Kulturerbeverwaltung spezialisiert. Sie wurde für die dreijährige Projektdauer als externe Forscherin und Sachverständige ins Team geholt und deckt dort thematisch den Pazifikraum ab. Während ihres mehrmonatigen Aufenthalts in Göttingen nahm sie erfreut wahr, dass das Projekt in der Stadt und durch Medienberichte auch weit darüber hinaus Aufmerksamkeit findet.
In Deutschland erlebe sie eine große Offenheit für das Thema, sagt sie: So hätten unter anderem bereits das Museum am Rothenbaum in Hamburg und das Grassi-Museum in Leipzig ihre Sammlungen und Archive geöffnet und die Forschenden ausdrücklich eingeladen, zu kommen, zu sichten und bei der Einordnung zu helfen.
In Göttingen arbeiten alle Beteiligten nun daran, dass es als ein weiteres Ergebnis der Forschungen bald auch eine Restitution nach Tansania geben wird. Gebeine und Schädel der Ahnen kehren dann wieder an die Stätten zurück, wohin sie gehören – und wo Forschende aus Europa sie vor rund 125 Jahren meist ohne Skrupel ausgegraben haben.