Durch die philosophische Brille: Mathematik im Wandel?
Wie jede andere Wissenschaft verändert sich auch die Mathematik. Doch wird der Wandel kaum wahrgenommen, er findet schleichend statt. Freigeist-Fellow Carolin Antos-Kuby will verstehen, was diesen Wandel bewirkt.
In der Physik kennt man den Knalleffekt: Irgendwann stellt jemand eine neue Theorie auf und verändert damit auf einen Schlag das gesamte Weltbild. Das war bei Newton so, der 1687 das Gravitationsgesetz formulierte, oder bei Albert Einstein mit seiner Relativitätstheorie. In der Mathematik aber gibt es kaum jemals den großen Knall, der die mathematische Welt aus den Angeln hebt, weil sich Gesetze, die die Mathematik einmal als wahr bewiesen hat, nicht so einfach auf den Kopf stellen lassen. Damit stellt sich die Frage, auf welche Art sich die Mathematik überhaupt entwickeln oder gar fundamental verändern kann. Eine Frage, die es in sich hat, denn sie verknüpft zwei Disziplinen miteinander: die Mathematik selbst und die Philosophie.
Wer sie beantworten will, muss in beiden Welten zu Hause sein, so wie Carolin Antos-Kuby. Sie hat in Mathematik promoviert und beschäftigt sich schon länger mit der philosophischen Seite ihres Fachs. Seit Mai 2018 ist sie an der Universität Konstanz Juniorprofessorin im Fachbereich Philosophie. Im Rahmen ihres Freigeist-Fellowships kann sie dort im Projekt "Forcing: Conceptual Change in the Foundations of Mathematics" erforschen, wie "Revolutionen" in der Mathematik verlaufen. . Sie ist davon überzeugt, dass die Einführung einer neuen mathematischen Theorie oder Technik die Mathematik nicht mit einem Schlag verändert, sondern dass der Wandel still und leise stattfindet – "einfach, indem eine neue Theorie fortan angewendet wird und damit das Denken beeinflusst", sagt sie.
Wie viel Einfluss hat das Forcing?
Konkret geht es bei Carolin Antos-Kuby um die sogenannte Forcing-Technik, die 1963 von dem US-Mathematiker Paul Cohen entwickelt wurde. Cohen hatte mit dem Forcing eine Lösung für ein grundlegendes Problem der Mathematik vorgeschlagen: Es war bekannt, dass es in der Mathematik sogenannte "Sätze" gibt, die sich weder beweisen noch widerlegen lassen. Cohen zeigte, dass sich nicht nur eine, sondern mehrere mathematische Welten finden lassen, und dass dort verschiedene Gesetzmäßigkeiten gelten. Lasse sich ein mathematischer Satz nicht in der einen Welt beweisen, müsse man eine neue Welt konstruieren, die zu ihm passe. Der englische Begriff Forcing bedeutet also, die Lösung eines mathematischen Satzes in einer neuen Welt zu "erzwingen".
Videointerview: Carolin Antos erklärt ihr Forschungsprojekt
Beispiele für diese Welten liefert die Mengenlehre mit den Mengen der natürlichen und reellen Zahlen. Die natürlichen Zahlen lassen sich abzählen: 1,2,3,4 und so weiter. Zur Menge der reellen Zahlen aber gehören auch Brüche und Wurzelzahlen, wenn man so will, unendliche viele "Zwischenzahlen". Die Menge der natürlichen und die Menge der reellen Zahlen sind zwar beide unendlich, aber trotzdem verschieden groß. Aber wie viel größer ist die Menge der reellen Zahlen?
Um zu zeigen, dass diese Frage nur unabhängig von der bekannten mathematischen Welt lösbar ist, ersann Cohen das Forcing. "Ich möchte jetzt herausfinden, ob und wie das Forcing bloß dadurch, dass man es nutzt, die Mathematik grundlegend verändert hat", sagt Carolin Antos-Kuby.
Der Wandel ist schwer zu belegen
Eine einfache Antwort wird es nicht geben. Carolin Antos-Kuby muss wie in einem Indizienprozess etliche Hinweise zusammentragen, um einen solchen Wandel – sowohl bezüglich der Begrifflichkeiten als auch der grundlegenden Denkmuster – zu belegen. Sie wird dafür nicht nur philosophisch und mathematisch, sondern auch historisch arbeiten müssen. Dazu zählen Recherchen in Archiven aber auch Interviews mit Zeitzeugen, die die Entwicklung der Mathematik im Laufe der Jahre miterlebt haben.
Zu ihrem Team gehört auch ihr Ehemann, ein Philosoph. Als Carolin Antos-Kuby an ihrer thematisch verwandten Promotion in Mathematik an der Universität Wien saß, entwickelten beide gemeinsam die Idee der mathematisch-philosophischen Arbeit zum Forcing. "Insofern war für uns immer klar, dass wir das Thema gemeinsam bearbeiten wollen. Das habe ich in den Antrag für das Freigeist-Fellowship auch hineingeschrieben – nun ist er tatsächlich Mitglied der Arbeitsgruppe. Und natürlich finden wir das toll."
Nicht zuletzt, weil es da jetzt auch ihre kleine Tochter gebe, und die Zusammenarbeit in derselben Stadt, an derselben Hochschule es sehr viel leichter mache, Berufs- und Familienleben zu vereinbaren. "Die Uni Konstanz ist extrem familienfreundlich, hat eine wunderbare eigene Kita, in der meine Tochter einen Platz hat." Und auch im Kollegium gibt es Unterstützung: "Ich habe meine Tochter schon in Besprechungen und Seminare mitgenommen, zum Beispiel wenn sie krank war, und das wurde nur positiv aufgenommen."
Auch mal zwischen den Stühlen sitzen
Die Freigeist-Förderung hat der jungen Wissenschaftlerin vor allem aber eines ermöglicht: die Chance, auch mal zwischen den Stühlen sitzen zu können. "Ich veröffentliche fast nur noch in der Philosophie. In der mathematischen Community komme ich damit ins Hintertreffen. Für die Philosophie wiederum gelte ich als Quereinsteigerin – im Grunde wäre damit eine Professur weder in dem einen noch in dem anderen Fach denkbar. Dank der Förderung des Freigeist-Projekts ist das in Konstanz aber möglich geworden." Und was schätzt sie grundsätzlich an dem Angebot der Stiftung? "Dass hier auch Vorhaben möglich sind, bei denen das Ergebnis völlig offen ist und die sonst keiner unterstützt. Es werden Menschen motiviert und gefördert, sich auf einen Weg zu begeben, der eben nicht der einfachste ist."
Noch ist offen, zu welchem Ergebnis das Team um Carolin Antos-Kuby kommen wird. "Wir hoffen sehr, dass wir etwas Bedeutendes darüber herausfinden, wie sich in der Mathematik ein konzeptioneller Wandel vollzieht."
Ein Beitrag aus dem Impulse-Magazin 2019 der VolkswagenStiftung, in dem mit Juliane Simmchen und Tine Hanrieder weitere Freigeister und ihre ungewöhnlichen Projekte vorgestellt werden.