Global Health - mal anders betrachtet
Freigeist-Fellow Tine Hanrieder bürstet gegen den Strich: Sie will herausfinden, wie die Arbeit von Helfern und Medizinern in Entwicklungsländern auf die Versorgung von Armen und Kranken in den Industrienationen zurückwirkt.
Tine Hanrieder ist schon während ihres Studiums der Politikwissenschaften eigene Wege gegangen. Als sie ihrem Professor damals eine ungewöhnliche Idee für die geplante Magisterarbeit vorstellte, bügelte der sie unwirsch ab: "Ihre These eröffnet eine irrelevante Debatte. Die ist nicht bedeutender als eine Kampagne für Fledermausschutz in der öffentlichen Politik." Tine Hanrieder ließ sich nicht schrecken. Sie suchte sich einen neuen Mentor und schrieb ihre Magisterarbeit. Mit Erfolg: Es folgten Einladungen zu Konferenzen, und angesehene Fachzeitschriften veröffentlichten ihre Artikel zum Thema.
Überkommene Meinungen hinterfragen
"Es hat mich einfach schon immer interessiert, überkommene Meinungen zu hinterfragen und neues Terrain zu bearbeiten", sagt Tine Hanrieder, die mit dem Freigeist-Fellowship (Projekt: "Medical internationalisms and the making of global public health (Dr. Global)") die Chance bekam, am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung eine Nachwuchsgruppe für "Globale humanitäre Medizin" aufzubauen. Auch hier ist ihr der Perspektivenwechsel wichtig. Sie beleuchtet ein klassisches Thema von einer ganz neuen Seite.
Unter "Globaler humanitärer Medizin" oder "Global Health" versteht man in der Regel das, was man aus den Nachrichten kennt: Ereignet sich irgendwo in einem Entwicklungsland eine Katastrophe, ein schweres Erdbeben, eine Epidemie oder eine Flutkatastrophe, dann reisen möglichst rasch Helfer aus den Industrieländern an, um Kranke und Verletzte zu versorgen und kurzfristig mit Notfallausrüstung auszuhelfen.
Videointerview: Tine Hanrieder zu ihrem Forschungsprojekt "Dr. Global"
In ihrem Forschungsprojekt "Doctor Global" schaut sich Tine Hanrieder vor allem die Arbeit von US-amerikanischen, kubanischen und französischen Hilfsorganisationen an, zum Beispiel von "Ärzte ohne Grenzen" oder "Ärzte der Welt". Mit der Erfahrung aus den Entwicklungsländern begannen die "Ärzte der Welt" in den 1980er Jahren, in Frankreich medizinische Stationen, sogenannte "Cliniques", für Arme und Obdachlose aufzubauen, um vor allem in den sozialen Brennpunkten der Städte den "Unterversorgten" zu helfen. Solche Kliniken, die überwiegend aus Spenden finanziert werden, gibt es bis heute. "Wir wollen auch untersuchen, inwieweit Auslandserfahrungen systematisch in medizinische Karrierewege eingebaut und Teil des Berufsethos’ werden", sagt die Forscherin. So gebe es Hinweise darauf, dass Menschen, die in Entwicklungsländern geholfen haben, solidarischer denken, weniger auf den eigenen Vorteil, den eigenen Profit bedacht sind.
Ein Forschungsfeld quer zu den Disziplinen
Im Sinne der Freigeist-Idee, innovativ zu sein und Grenzen zu überschreiten, kooperiert Tine Hanrieder mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus ganz verschiedenen Disziplinen – Anthropologen, Historikern und Soziologen. "Das ist notwendig, weil unser Forschungsfeld quer zu den Disziplinen liegt: Mein historisch-soziologischer Blick auf die Internationalisierung der Medizin führt dazu, dass ich für viele als Soziologin rüberkomme, obwohl ich Politologin bin."
Tine Hanrieder und ihr Team werden in den kommenden Jahren viel in Frankreich, Kuba und den USA unterwegs sein, um Interviews zu führen und weitere Kontakte zu Hilfsorganisationen zu knüpfen. Ein großer Teil der Arbeit besteht auch darin, aussagekräftige Akten und Dokumente zu sammeln und auszuwerten. "Die `Ärzte ohne Grenzen´ haben uns zum Beispiel viele interne Gesprächsprotokolle von Sitzungen zur Verfügung gestellt, die uns enorm helfen. Sie liefern einen tiefen Einblick in die Organisation, das Denken, den Sinneswandel, den Blick der Mediziner auf Frankreich und andere Industrienationen, in denen die Organisation Büros unterhält – auch in Deutschland."
Versorgungsmodell aus Kuba in den USA gefragt
Besonders interessant ist für sie Kuba, weil hier das klassische Bild von der Entwicklungshilfe auf den Kopf gestellt wird. Denn die Karibikinsel exportiert heute eigenes Wissen über eine gute medizinische Versorgung ins Ausland – sogar in die USA. In Kuba gibt es ein volksnahes Gesundheitssystem für alle. In jedem Stadtviertel existiert eine Nachbarschaftspraxis, ein "consultorio", in der die Behandlung gratis ist. Die Mediziner dort sind auch für die Gesundheitsvorsorge in ihrem Viertel verantwortlich, geben den Menschen zum Beispiel Tipps für die richtige Ernährung. Die Idee der consultorios als dem kubanischen Modell der Primärversorgung ist in den USA teils sehr angesehen, sagt Tine Hanrieder. Beim Volk der Navajo etwa gibt es Bestrebungen, das als Vorbild zu nehmen. Ob und wie die Erfahrungen der Kubaner in den USA wiederum in deren Heimat zurückwirken, weiß sie noch nicht. "Momentan sind wir in Kontakt mit kubanischen Fachleuten und hoffen, Zugang zu offiziellen Quellen zu erhalten", sagt sie. Ob sie die bekommen wird und ob sie die Informationen in ihre Arbeit einfließen lassen kann, ist derzeit noch offen – aber Flexibilität und das Bewältigen von Ungewissheiten gehören zu einem Freigeist-Fellowship ja mit dazu.
Ein Beitrag aus dem Impulse-Magazin 2019 der VolkswagenStiftung, in dem mit Juliane Simmchen und Carolin Antos weitere Freigeister und ihre ungewöhnlichen Projekte vorgestellt werden.