Wieviel Risiko braucht die Förderung von Wissenschaft?
#BegutachtungMit der Förderinitiative „Experiment!“ und dem Losverfahren, das für Bewilligungen angewandt wurde, hat die VolkswagenStiftungen in zweifacher Sicht für Aufsehen gesorgt. Geförderte und Fachleute aus dem In- und Ausland haben bei einem zweitägigen Workshop im Dezember 2022 diskutiert, welche Lehren zu ziehen sind.
Von Ludwig Wittgenstein ist der Satz überliefert: „Wir wissen mitunter nicht, wonach wir suchen, bis wir es schließlich gefunden haben.“ Das trifft ziemlich gut den Kern risikobereiter Forschung, die ungewöhnliche Ideen und noch unerprobte Methoden in den Blick nimmt. Gäbe es solche neugiergetriebenen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler nicht, die im Forschungslabor vertraute Pfade verlassen und jenseits des Mainstreams forschen, hätten wir heute möglicherweise noch keinen mRNA-Impfstoff gegen das Coronavirus.
Das Problem (nicht nur) aus Sicht staatlicher Förderinstitutionen jedoch ist: Projekte mit ungewissem Ausgang sind mit dem Risiko des Scheiterns behaftet. Solche Anträge haben deshalb nur eine geringe Chance im Forschungsförderungssystem. Institutionen wie die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) bewilligen zwar Millionen Euro für Vorhaben – erwarten dafür aber im Gegenzug nachweisbare wissenschaftliche Vorarbeiten und ein im Prinzip sicheres Ergebnis.
Die Stiftung fördert den Mut zum Risiko
Weil auf diese Weise innovative Ideen verloren gehen, die es wert wären, ausprobiert zu werden, hat die VolkswagenStiftung zwischen 2013 und 2021 mit ihrem Programm „Experiment!“ die Erkundung neuer Forschungsideen unterstützt. Die letzten der insgesamt 183 mit jeweils 120.000 Euro für Sach- und Personalmittel bewilligten Vorhaben laufen derzeit noch. Scheitern ist hier ausdrücklich erlaubt. „Fehler sind ein Lerneffekt, sie bringen die Geförderten und andere Forschende, die verwandte Themen bearbeiten, weiter“, sagt Fachreferentin Ulrike Bischler, die „Experiment!“ mit ihrem Kollegen Pavel Dutow betreut hat.
Die Stiftung nutzte das Programm auch, um ihrerseits eine Idee zu erproben: ein teil-randomisiertes Auswahlverfahren, das 2017 bis 2021 zum Einsatz kam. Nach einer qualitätssichernden Sichtung in der Stiftung und einer Vorauswahl der eingegangenen Anträge im Doppelblindverfahren durch eine unabhängige, internationale Wissenschaftler:innenjury wurde am Ende die Hälfte der Geförderten per Losverfahren bestimmt, die andere Hälfte nach der üblichen Methode durch Juryvotum.
Ulrike Bischler: „In hochkompetitiven Verfahren ist das Los bei vorausgewählten Anträgen eine Entlastung, weil Gutachterinnen und Gutachter deren Qualitätsunterschiede nicht mehr weiter differenzieren können. Zudem ist ein Losentscheid frei von Voreingenommenheit und von Einfluss durch Gruppendynamik in der Jury.“
5000 „riskante“ Anträge
Für die finanziell vergleichsweise kleine „Experiment!“-Förderung mit nur 18 Monaten Laufzeit verzeichnete die VolkswagenStiftung Jahr für Jahr mehr Anträge. 5.051 waren es insgesamt, von schon etablierten Professorinnen und Professoren bis zu Postdoktoranden und -doktorandinnen am Beginn ihrer Karriere. Die Stiftung beauftragte Martina Röbbecke und Dagmar Simon, Geschäftsführerinnen von Evaconsult, Agentur für Evaluation, Beratung und Forschung, mit der Begleitforschung des Projekts. Die beiden befragten Geförderte nach ihren Erfahrungen mit „Experiment!“ und zu ihrer Meinung zur Auswahl per Losverfahren. Während des internationalen Workshops „Risky Research: Normality or Exception?“ in Hannover stellten sie die Ergebnisse vor.
Erfreuliches Fazit: Rund ein Drittel der „Experiment!“-Geförderten hat nach eigenen Angaben die im Antrag formulierten Projektziele erreicht. Zwei Drittel gaben an, die Projektziele teilweise erreicht zu haben. 72 Prozent hoben den Nutzen der Förderung für die Qualifizierung des wissenschaftlichen Nachwuchses hervor. Viele hätten hier ihre ersten Drittmittel einwerben können.
Ein Förderprogramm für Grenzgänger
„Die Förderinitiative ist offenbar besonders attraktiv für Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die sich für Fragestellungen zwischen den Disziplinen interessieren, um dort Neues zu entdecken“, sagt Dagmar Simon. In diese Kategorie passt Gerhard Fischerauer, Geförderter aus der letzten „Experiment!“-Runde 2021. Der Ingenieur und Professor für Regel- und Messtechnik an der Universität Bayreuth beschäftigt sich mit stark nitrat-belasteten Ackerböden – eine Folge der Überdüngung. Die weltweite Lebensmittelknappheit macht höhere Erträge in der Landwirtschaft unumgänglich. Deshalb wird viel - zu viel - gedüngt. Ihn trieb nun die Frage um: „Wie schafft man es mittelfristig, die Nitratbelastung besser einzuschätzen und so den Düngemitteleinsatz so gering wie möglich zu halten? Könnte dies nicht mit Hilfe der elektrischen Impedanzspektroskopie (EIS) gelingen?“
Mit EIS können biologische oder biomedizinische Systeme, das Sedimentationsverhaltens von Partikeln in Flüssigkeiten oder die Eigenschaften von Stoffgemischen untersucht werden. Ob Fischerauers Idee funktioniert, ist noch nicht bewiesen. Aber eines ist für ihn klar: „Die Deutsche Forschungsgemeinschaft hätte meinen Antrag abgelehnt, weil ich die Erreichbarkeit des Projektziels nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit hätte belegen können. Dieser Beleg hätte so viele Vorarbeiten erfordert, dass die wissenschaftliche Kernarbeit bereits geleistet und ein Projekt entbehrlich geworden wäre.“
Mit Physik das Hirn erforschen
Schon einen Schritt weiter ist Christian Beste, Professor für Kognitive Neurophysiologie an der Technischen Universität Dresden und 2018 unter den Geförderten. Er beschäftigt sich mit menschlichen Handlungsoptionen und den neuronalen Vorgängen im Gehirn: Wie schafft das Hirn es, von einem Gedanken zum nächsten zu wechseln, ohne langfristige Ziele zu verlieren. Und wie können wir uns auf ein Ziel konzentrieren, ohne dabei stecken zu bleiben? Mit der Anwendung des für sein Fach eher ungewöhnlichen mathematischen Kuramoto-Modells aus der Physik versucht er, die neuronalen Vorgänge zu ergründen.
Wie bei Gerhard Fischerauer ist auch bei Beste der Ausgang seines Vorhabens ungewiss, eine Förderung durch die DFG wäre keine Option gewesen. “Durch eine zu geringe Risikobereitschaft bei Forschenden und Förderern gelingen immer seltener wirkliche wissenschaftliche Durchbrüche”, bedauert er. Bedauerlich findet er auch die Tatsache, dass es nach dem planmäßigen Ende von “Experiment!” in Deutschland keine vergleichbare Förderinitiative mehr gibt.
In Bestes Fall genügte die “Experiment!”-Förderung, um so gut voranzukommen, dass er nun mit Mitteln aus dem Programm “KMU Innovativ” des Bundesforschungsministeriums weiterforschen kann: “Damit werden mein Team und ich unsere bisherigen Erkenntnisse in die klinische Diagnostik, etwa bei kindlicher Epilepsie, einbringen und weiterentwickeln.”
Gescheitert – und trotzdem vorangekommen
Die Infektionsbiologin Olga Makarova wiederum musste in ihrem geförderten Vorhaben das Ziel neu justieren: Sie erforschte, als Nebenaspekt aus einem anderen Projekt, wie das Umweltgift Glyphosat Phagen beeinflusst. Phagen sind Viren, die Bakterien infizieren und zerstören können. „Das Projekt dauert zwar noch an, aber schon jetzt ist klar, dass ich meine Annahme nicht so bestätigen kann, wie ich gehofft hatte. Es ist komplexer als ursprünglich angenommen.“ Ihrer Karriere geschadet hat das nicht. Das „Experiment!“-Projekt hatte sie als Postdoc an der Freien Universität Berlin beantragt, mittlerweile ist sie Assistenzprofessorin an der Veterinärmedizinischen Universität Wien. „Ich fand die Förderung sehr nützlich für meine Karriere. Für mich war das ein Schub an Anerkennung“, sagt Makarova, die weiter an dem Thema forschen will.
Das zweite große Thema des Workshops: das von der Stiftung experimentell eingeführte randomisierte Auswahlverfahren. Während die große Bedeutung von „Risky Research“ für neue Impulse in der Wissenschaft unstrittig zu sein scheint, gehen die Meinungen über die Sinnhaftigkeit von randomisierten Auswahlverfahren weit auseinander.
Wer „nur“ Losglück hatte, freut sich trotzdem
Auch dazu hatten Röbbecke und Simon die „Experiment!“-Geförderten befragt. Die Mehrzahl bewertet die Auswahl per Los grundsätzlich positiv. So schätzen die Forscherinnen und Forscher an einem Losverfahren, dass es die individuelle Chancengleichheit fördert (92 Prozent) und bessere Chancen für riskante Forschung bietet (80 Prozent). Die Vorstellung, womöglich „nur“ dank einer Auslosung zum Zuge gekommen zu sein, hat für die Mehrheit keinen negativen Beiklang.
„Peer Review hat eine lange Tradition und ist unverzichtbar, um beispielsweise Manuskripte für eine Veröffentlichung in Zeitschriften oder Sammelwerken auszuwählen, für Berufungsverfahren, für Förderentscheidungen über Projekte sowie für die Verleihung von Stipendien oder wissenschaftlichen Preisen“, sagt Martine Röbbecke. Es stoße jedoch an seine Grenzen, wenn es um „Out-of-the-Box“-Projekte gehe, die etwa zwischen verschiedenen Disziplinen angesiedelt seien.
Heißt: Gutachterinnen und Gutachter entscheiden häufig eher konservativ und betrachten Förderanträge vor allem durch die Brille des eigenen Faches. Zudem besteht immer das Risiko eines Bias – einer nicht völlig auszuschließenden Verzerrung des Votums durch Befangenheit, Vorurteil oder Voreingenommenheit.
Interessant ist vor diesem Hintergrund, „dass eine große Zahl der Befragten verschiedenen Aussagen zustimmt, die indirekt eine Kritik an Peer Review-Verfahren darstellen“, sagen die Autorinnen. Zwar liege es auf der Hand, dass eine Auswahl durch Losverfahren Interessenskonflikte und unbewussten Bias vermeide, wie 88 Prozent der Befragten meinen. „Aber darüber hinaus stimmen sie zu, dass Losverfahren auch Chancen für in der Jury schwach vertretene Fächer und für mehr thematische und methodische Vielfalt bieten.“
Der Peer Review hat doch noch nicht ausgedient
Während des Workshops kam es zu lebhaften Diskussionen. Zwar stimmten viele Teilnehmende zu, dass das Losverfahren eine gute Ergänzung zum Peer-Review-Verfahren sein könnte – das belegt unter anderem auch die Studie des Soziologen Axel Philipps (Leibniz Universität Hannover) – doch bis zu einer vollständigen Randomisierung möchte offenbar kaum jemand gehen. Letztlich ist Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern die Begutachtung durch Fachkolleginnen und -kollegen wichtig, weil sie zur Sichtbarkeit und Anerkennung ihrer Forschungsarbeit in ihrer Fachcommunity beiträgt – so der Eindruck von Martina Röbbecke und Dagmar Simon.
Deshalb provozierte Lambros Roumbanis vom Stockholm Centre for Organizational Research an der Universität Stockholm mit seiner These: Braucht es überhaupt noch umfangreiche Proposals, die von ohnehin schon stark arbeitsbelasteten Gutachterinnen und Gutachtern bewertet werden müssen? Geht es nicht auch ohne und einfach im Losverfahren – gerade, wenn man innovative Forschungsideen nicht nur fördern will, sondern auch muss, um wettbewerbsfähig zu bleiben?
Cornelia Schendzielorz von der Berliner Humboldt-Universität hielt dagegen: Mit der Einführung von Losverfahren, auch von teil-randomisierten Verfahren, werde die Wissenschaftlichkeit der Entscheidungen über Forschungsfinanzierung dem Zufall preisgegeben. Sprich: Es werden dünne statt dicke Bretter gebohrt.
Dessen ungeachtet sind europaweit staatliche Forschungsförderungsinstitutionen dabei, zumindest eine Teil-Randomisierung, wie sie bei „Experiment!“ praktiziert wurde, zu adaptieren: etwa der Schweizerische Nationalfonds oder die österreichische Förderung der wissenschaftlichen Forschung (FWF).
Für die Hochschulen, an denen geförderte Forscherinnen und Forscher tätig sind, scheint es übrigens keine große Rolle zu spielen, dass diese „nur“ einen „Experiment!“-Grant an ihr Institut bringen. Das betonen die Geförderten. Gerhard Fischerauer von der Universität Bayreuth bringt es auf den Punkt: „Ich habe noch nie das Argument gehört, ‚Kollege A bekommt Geld von BMW, Kollege B nur von Dacia‘ oder ‚Kollegin C hatte ja nur Losglück bei der VolkswagenStiftung‘. Da der Umfang bewilligter Drittmittel und die damit bewirkten Ergebnisse aber sehr wohl zählen, hat ein ‚Experiment!‘-Grant wirklich nichts schief zu Beäugendes an sich.“
Auch dies ist ein Argument dafür, von Fall zu Fall das Los entscheiden zu lassen.