Wie reagieren auf den "Meteoriteneinschlag" ChatGPT?
KI-Sprachmodelle erobern in rasantem Tempo die Welt und prägen zunehmend unsere Gesellschaft. Inwieweit sind ChatGPT und ähnliche Programme in der Lage, unser Bildungswesen zu verändern? Wo macht ihr Einsatz Sinn, wo ist er gefährlich? Darüber diskutierten Expert:innen bei der Veranstaltung "Das Ende des Selberdenkens? Wie ChatGPT Schule und Studium verändert hat".
Am 30. November 2022 wurde mit ChatGPT erstmals ein intuitives und kostenloses KI-Sprachmodell für die Öffentlichkeit vorgestellt. Für das Lernen und Lehren sei das "wie ein Meteoriteneinschlag" gewesen, sagt Prof. Dr. Doris Weßels, Wirtschaftsinformatikerin an der Fachhochschule Kiel, und eine der Teilnehmerinnen an der Podiumsdiskussion. Erstmals wird eine KI scheinbar problemlos für die Masse nutzbar – auch für Lernende an Schulen und Universitäten und für Lehrkräfte. Das von NDR-Kultur-Redakteur Ulrich Kühn moderierte "Herrenhäuser Gespräch" mit Gästen aus Wissenschaft und Politik ging der Frage nach, wie KI-basierte Sprachmodelle den Alltag in Schule und Studium bereits verändert haben und in Zukunft beeinflussen werden. Macht uns künstliche Intelligenz klüger? Oder macht es nur die klüger, die ohnehin schon klug sind? Ist sie Hilfe? Oder Risiko?
Für Julia Willie Hamburg ist KI zunächst vor allem kein Selbstzweck, sondern "ein Werkzeug, das den Menschen die Arbeit erleichtern soll". Die Niedersächsische Kultusministerin sieht KI und ChatGPT als "riesige Chance", unter anderem beim Erlernen von Fremdsprachen oder der Erstellung von Referaten. Auf diese Weise könne der Unterricht attraktiver werden, so Hamburg. Andererseits könne KI Wissen nicht ersetzen, schon gar nicht den Wissenserwerb in jüngeren Jahren. Der verantwortungsvolle Umgang mit KI setze deshalb Kompetenz voraus.
Welche Bildung wollen wir anstreben?
Eben deshalb müssen wir darüber reden, welche Kompetenzen wir künftig in Schulen und Universitäten fördern wollen, welche Inhalte uns wichtig sind, sagte Prof. Dr. Katharina Scheiter vom Lehrstuhl Digitale Bildung an der Universität Potsdam. Was müssen Menschen ohne technologische Unterstützung können? Was wollen wir gemeinsam mit einer KI erledigen? Reines Faktenwissen könne man auch mit Papier und Bleistift lernen, aber eine gesellschaftliche Teilhabe sei zunehmend mit digitaler Kompetenz verbunden, unterstrich Scheiter. Auf die Frage von Ulrich Kühn, welche Bildung wir eigentlich anstreben, was Menschen in vielleicht zehn Jahren beherrschen sollten, räumte Katharina Scheiter ein, dass man an einigen Stellen im Lehrplan auf etablierte Fächer verzichten müsse. Aber: Es sei schon immer Wissen ausgelagert worden, man denke an Taschenrechner und Formelsammlung, das sei also keine neue Diskussion.
Welche längerfristigen Auswirkungen KI auf Motivation und Lerngewinn bei Lernenden habe, dazu könne die Wissenschaft laut Scheiter im Moment noch wenig sagen, da es sich bei den neuen KI-Sprachmodellen wie ChatGPT um selbstlernende Systeme handele, die sich von den regelbasierten, mit denen man in der Bildung seit den 70er Jahren arbeite, grundlegend unterscheiden.
KI erst ab einer gewissen Altersstufe?
Doris Weßels schilderte vor den rund 400 Zuhörer:innen Zuhörern im Xplanatorium Schloss Herrenhausen einen ungewöhnlichen Selbstversuch, deutlich vor ChatGPT, wie sie sagte. Sie sei erschöpft und ideenlos gewesen, habe aber noch einen Text erstellen müssen. Ihre Rettung sei der virtuelle KI-Schreibpartner gewesen, berichtete die Diplom-Mathematikern. Sie habe den Austausch als belebend empfunden: "Meine kognitiven Ressourcen wurden intensiv gefordert." Der Mensch als Prüf-Instanz sei dabei aus ihrer Sicht weiter der entscheidende Faktor bei der Erstellung der Texte, es sei nunmehr eine eher gutachterliche Tätigkeit, die in diesem Schreibprozess übernommen werden müsse. "Wir als Menschen sind verantwortlich für das Ergebnis."
Auch für Heinz Peter Meidinger, ehemaliger Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, ist der Mensch der Mittelpunkt im Bildungsprozess. Trotz KI und anderer digitaler Angebote: "Das entscheidende Medium wird die Lehrkraft bleiben." Der ehemalige Deutschlehrer betrachtet KI aber auch als enorme Chance, die jedoch kein Selbstläufer sei, mit der das Schulsystem oder die Lernleistungen automatisch besser würden. Wie Julia Willie Hamburg plädiert auch Meidinger dafür, KI in der Schule erst ab einer gewissen Altersstufe zu nutzen. "Es müssen die Grundlagen gelegt werden", forderte der Pädagoge. "Um KI nutzen zu können, braucht man im Kopf eine intelligente Wissensbasis." Welche Fächer am Ende auf den Lehrplänen stünden, sei dabei relativ egal, solange man das gewünschte Bildungsziel nicht aus den Augen verliere.
Wo KI eine Hilfe ist, wo sie eher stört
KI biete schon heute eine Reihe von Entlastungsmöglichkeiten für Lehrkräfte, berichtete Katharina Scheiter. Entsprechende Programme könnten bei der Erstellung von Unterrichtsmaterial, bei Vor-Korrekturen oder bei Feedback-Aufgaben unterstützen. Auch Julia Willie Hamburg erkannte Einsatzfelder, unter anderem bei der Erstellung von Stundenplänen und immer wiederkehrenden Verwaltungsaufgaben. Solche Automatismen habe man als Ministerium im Blick. Bei aller Skepsis bezeichnete Heinz Peter Meidinger es augenzwinkernd als den Traum einer jeden Lehrkraft, wenn eine KI Korrekturen übernehmen könnte – gerade bei zeitaufwendigen Deutschklausuren. "Das wäre eine Entlastung."
Deutlich optimistischer äußerte sich Doris Weßels. Hochschullehrer würden schon heute in vielfältiger Weise auf die Hilfe von KI zurückgreifen. Bei Schüler:innen sei indes interessanterweise zu beobachten, dass viele diese Unterstützung gar nicht wollten – "weil sie sich sehr stark mit ihrem Text identifizieren". KI werde als Störung empfunden.
Zeitgemäße, motivierende Aufgabenstellungen statt plagiatsjagender Lehrkräfte
Machen Hausarbeiten oder Noten in Zeiten von ChatGPT noch Sinn? Wie unterscheiden wir geistiges Eigentum vom Plagiat? "Ich glaube nicht, dass man Noten vergessen kann und Hausarbeiten nicht mehr möglich sind", positionierte sich Heinz Peter Meidinger. Allerdings komme auf Lehrkräfte ein zusätzlicher Aufwand zu, da man bei schriftlichen Arbeiten den Prozess eines Produkts stärker begleiten und später Gespräche über die Arbeiten führen müsse, um Missbrauch weitgehend ausschließen zu können. Julia Willie Hamburg plädierte für eine Enttabuisierung der Debatte, man müsste Transparenz bei den Arbeiten herstellen: Wo ist KI erlaubt, wo nicht. Auch Katharina Scheiter sagte, gewinnen könne man bei Thema Plagiat nur über Offenheit und Transparenz. Doris Weßels warnte in ihrem Beitrag von sogenannten KI-Detektoren, also einer KI-gestützten Software, die Plagiate zu enttarnen versuche. So gerate man in einen Wettlauf der Programme, bei dem man nur verlieren könne. Vielmehr müsse man über zeitgemäße, motivierende Aufgabenstellungen nachdenken, sodass man gar nicht in Versuchung komme, KI zum Einsatz zu bringen. "Wir brauchen neue Lern- und Lehr-Settings mit entsprechende Aufgabenstellungen."
Datenschutz bremst den Einsatz an Schulen
Die technologische Entwicklung künstlicher Intelligenz vollzieht sich in einer zuvor ungeahnten Geschwindigkeit, gleichzeitig sei die Bildungspolitik im Bund und in den Ländern "hinter der Zeit", stellte Moderator Ulrich Kühn fest. Wie man als Politik "vor die Zeit" kommen wolle, fragte er Kultusministerin Hamburg. Man wolle als Kultusministerkonferenz effizienter werden, aber "wir werden nie vor die Lage kommen", stellte Julia Willie Hamburg fest. Zum Beispiel der bei KI nicht unwichtige Punkt des Datenschutzes sei Ländersache, was die Abstimmungen komplexer mache. Die Lehrkräfte seien verunsichert, ob bestimmte Apps datenschutzkonform seien – aber das binde Zeit.
Unterstützung bekam Hamburg von Heinz Peter Meidinger. Es sei wichtig, dass die Daten geschützt seien, aber natürlich gehe das auf Kosten der Geschwindigkeit, zumal das Thema in manchen Bundesländern übertrieben gehandhabt werde. Aus seiner Sicht müsse sich die Politik bei KI "auf den konkreten Handlungsbedarf konzentrieren". Man benötige datenschutzsichere Zugänge zu ChatGPT oder zu Lernplattformen, in die das Programm integriert ist. Außerdem sei zu klären, wer dafür die Kosten übernehme.
Welche Rolle können Eltern übernehmen?
Wenn Schulen die Geschwindigkeit fehle, die angeraten wäre, könnten dann die Eltern bei der digitalen Erziehung Verantwortung übernehmen? Das sei auch eine Elternaufgabe, Schule könne nicht alles regeln, stimmte Hamburg dem Moderator zu. "Eltern haben eine enorm große Verantwortung", sagte auch Meidinger. Allerdings gebe es leider auch Eltern, die nicht greifbar und keine Hilfe seien. Ulrich Kühn hakte ein: Sind Eltern also überfordert, und benötigen wir einen Informatikunterricht für Eltern? Das Wort Informatikunterricht gefalle ihr nicht, argumentierte Katharina Scheiter. Ihr gefalle das Label "Digitale Grundbildung", die die Medienkompetenz erhöhe, besser. Wobei die soziale Ungleichheit ein Problem sei. Je mehr man es dem Elternhaus überlasse, Medienkompetenz zu vermitteln, desto größer sei die Gefahr, dass das Wissen am Ende ungleich verteilt sei.
Schon jetzt steht es um die Medienkompetenz der jungen Generation offensichtlich nicht zum Besten. "In Summe ist das digitale Basiswissen der Deutschen deutlich unter dem EU-Schnitt", hob Doris Weßels hervor. Das liege vor allem an fehlenden Lehrkräften an den Schulen – eine fatale Situation angesichts der "unglaublichen Dynamik", mit der die digitale Entwicklung voranschreite. "Diesen Prozess in dieser Geschwindigkeit, das haben wir noch nie erlebt", zeigte sich Weßels sicher. Vor dem Bundestagsausschuss zum Thema ChatGPT habe sie deshalb eine KI-Task-Force gefordert, in der Hoffnung, dass das Wissen von den Lehrenden schnell zu den Lernenden übergeht, um Multiplikator:innen-Effekte zu erzielen. Der Bund sollte tätig werden, bevor sich 16 Länder mühsam über ein abgestimmtes Vorgehen einigen müssten.
Julia Willie Hamburg konnte der Task-Force "sehr viel abgewinnen", aber Weßels ansonsten wenig Hoffnung machen. Man müsse zunächst auf Länderebene klären, wie man Tempo in das Thema bekomme. Hilfe sei natürlich willkommen, das sei aber nicht einfach in der Umsetzung. Eventuell könne der Bund Leitgedanken formulieren, die dann in allen Ländern gleich wären.
Wie stellt sich die Situation in fünf Jahren dar?
"Worüber reden wir in fünf Jahren? Wo sind wird dann?", das wollte Moderator Kühn zum Abschluss wissen. Hamburg erwartet, dass es bis dahin zumindest funktionierende automatisierte Prozesse in der Schulorganisation geben könnte. Heinz Peter Meidinger hofft auf eine empirische Datenbasis als Grundlage für den weiteren Umgang mit KI. Katharina Scheiter sagte, sie schwanke zwischen Hoffnung und leichter Skepsis. Sie befürchte, dass es zum großen Wurf in der Bildung bis dahin nicht reichen werde, wenn man sehe, wie langsam Bildungsprozesse sich veränderten.
Doris Weßels war sich sicher: "Wir werden in fünf Jahren in virtuellen Räumen sein, die wir uns heute noch gar nicht vorstellen können." Allein der Betrachtungszeitraum von fünf Jahren, sei für sie "ist alte Denke". Man müsse in viel kürzeren Zeiträumen betrachten und diskutieren. Ihre rhetorische Frage: Was hilft es uns, wenn wir in fünf Jahren wissen, wie vor fünf Jahren gelernt wurde? Das Schlusswort war als Kritik nicht nur an die Politik zu verstehen.