Veranstaltungsbericht

Selbstoptimierung – Müssen wir besser werden?

#Xchange

Autorinnen: Nina Hahne, Celina Adrion

Woher kommt der Wunsch nach Selbstoptimierung und ab wann ist dieser schädlich? Darüber sprachen Expert:innen und Publikum bei unserem Herrenhausen Xchange "Fitter, gelassener, erfolgreicher – Wie viel (Selbst-)Optimierung brauchen wir?" am 5. Dezember im Xplanatorium Herrenhausen.

Gesündere Ernährung, mehr Sport, vermehrte Ruhepausen – gefragt nach den Vorsätzen für 2024 verteilten sich die Präferenzen des Publikums ziemlich gleichmäßig auf diese drei Punkte. Die meisten Menschen haben gute Vorsätze fürs neue Jahr und diese sind oft verbunden mit einer Steigerung der eigenen Gesundheit oder Leistung. Aber müssen wir überhaupt immer "besser" werden? Woher kommt der Drang danach? Mit diesen Fragen leitete Moderator Jan Sedelies direkt in die Diskussion über.

Was bedeutet Selbstoptimierung?

Zunächst galt es, den Begriff der Selbstoptimierung zu definieren. Ricardo Ferrer Rivero, der sich selbst als "vegan Transhumanist" beschreibt, sieht Selbstoptimierung als einen Weg, sich das Leben zu vereinfachen und menschliches Potenzial zu entfalten. So berichtete er von eingepflanzten Chips mit Türöffnungs- oder Taschenlampenfunktion oder Flüssignahrung, die den zeitlichen Aufwand für Mahlzeiten reduziert.

Die Soziologin Dr. Diana Lindner, Universität Jena, sieht dieses positiv gezeichnete Bild kritischer. Für sie bedeutet Selbstoptimierung eher, Grenzen zu überschreiten. Dies kann Menschen zwar auf der einen Seite motivieren über sich selbst hinauszuwachsen, auf der anderen Seite aber auch dazu führen, eigene Bedürfnisse zu übergehen. In ihrer Forschung stellte sie fest, dass der in der Gesellschaft verbreitete Optimierungsdruck oftmals Panik bei der Bevölkerung auslöst.

Ein Mensch mit einem Mikrophon steht vor einer Menschenmenge

Moderator Jan Sedelies (links) führte durch die Veranstaltung.

Dr. Julia Schreiber, Psychologin an der Goethe Universität Frankfurt am Main, ergänzte den Faktor der Unabschließbarkeit: Selbstoptimierung habe häufig keinen Anfang und kein Ende und führe damit auch nie zu einem Zustand der Zufriedenheit. Rein begrifflich betrachtet definiert sie Selbstoptimierung als den Versuch, unter den gegebenen Bedingungen mit den zur Verfügung stehenden Ressourcen (zum Beispiel im stressigen Alltag aus begrenzter Zeit) das Bestmögliche herauszuholen. 
Historisch sei, so Schreiber, der Drang nach eigener Optimierung nichts Neues. Schon in der Antike gab es diesen, jedoch bestand dort noch nicht die Notwendigkeit, vollends dem Idealbild zu entsprechen. Es reichte eine Annäherung. Heute würde suggeriert, dass das Ideal auch erreichbar wäre. Lindner sieht den Beginn der gesteigerten Selbstoptimierung in der Wohlstandgesellschaft der 50er Jahre. Selbstverwirklichung kam damals als neuer Wert auf. Es gab mehr Freiheiten und weniger familiäre Korsetts und das eigene Glück schien auf einmal erstrebenswert und erreichbar. 

Welche Rolle spielt Technik?

In der Wissenschaft ist man sich einig, dass die Einführung der Smartphones ein weiterer entscheidender Schritt für den Drang nach Selbstoptimierung war. Mit diesen wurde der Alltag immer schnelllebiger. Die Beschleunigung erfordert jedoch, immer mehr zu leisten und auch nebenbei ständig Aufgaben zu erledigen. Es entstand eine Burn-Out-Welle, die wiederum den Markt mit Stressbewältigungsangeboten überschwemmte. Bewegung, Meditation, Selbstorganisation – die Möglichkeiten, sich auf persönlicher Ebene selbst zu entschleunigen, scheinen zahlreich. Dabei wird das Problem jedoch häufig auf die individuelle Ebene abgewälzt, während das krankmachende System an sich nicht verändert wird.

Mann steht vor einem Bildschirm

Ricardo Ferrer Rivero (links) stellt sich den Zuschauenden vor.

Anfang der 2000er habe laut Lindner die Agenda 2010 ein neues Gesundheitsbewusstsein verbreitet. Statt nur bereits vorhandene Krankheiten zu behandeln, wurden verschiedenste Präventionsmaßnahmen etabliert. Diese Verbreitung von Maßnahmen hat jedoch auch die Maßstäbe verschoben. Während früher viermal die Woche Sport als Leistungssport galten, wird es heute als Präventionsmaßnahme empfohlen; der Druck auf die Individuen ist weiter gestiegen. Im letzten Jahrzehnt haben zudem die sozialen Medien den Fokus auf Äußerlichkeiten gerichtet und eine Fitnesswelle losgetreten. 8.000 bis 10.000 Schritte am Tag zu erreichen, schlank, fit und sportlich sein, sind inzwischen Maximen im Leben vieler. Unterstützt wird der Trend durch entsprechende Software – inzwischen kann jedes Smartphone Schritte zählen. Julia Schreiber ergänzte, dass technischer Fortschritt auch Schönheits-OPs massentauglich gemacht haben. Viel ist möglich und die Kosten sind gesunken. Technik als Voraussetzung und Katalysator sieht sie auch in der Reproduktionsmedizin. Die Fortpflanzung lässt sich nach hinten verschieben, davor kann man noch möglichst viel im Leben erreichen.

Sketch note der Veranstaltung Selbstoptimierung

Während der Veranstaltung erstellte Tanja Föhr eine Sketchnote mit den wichtigsten Informationen, Hinweisen und Publikumsmeinungen. Diese steht unten auch zum Download bereit.

Gegenüber dieser kritischen Sichtweise auf Selbstoptimierung konnte Podiumsgast Ricardo Ferrer Rivero auch die andere Perspektive aufmachen: Er optimiere sich selbst mit dem Ziel ein möglichst glückliches und langes Leben zu führen. Nachdem er jahrelang im Hamsterrad der Wirtschaft gefangen war und wenig auf sich, seine Bedürfnisse und seinen Körper gehört habe, habe er angefangen sich damit zu beschäftigen, was der Mensch eigentlich wirklich brauche. Dabei helfe es, den Menschen einmal von außen als eigene Spezies zu betrachten, dessen körperliche Voraussetzungen nicht mit den Veränderungen in der Umwelt mitgekommen seien. Unsere Körper seien für die aktuelle Lebensumgebung nicht geschaffen und somit täten wir täglich sehr viele Dinge, die nicht gut für uns seien: Stundenlanges Sitzen, haufenweise Kohlenhydrate. Studien aus den USA zeigten, dass die Lebenserwartung auf Grund der vielen Zivilisationskrankheiten derzeit wieder rückgängig sei. Technische Entwicklungen können uns dabei helfen, ein besseres Leben zu führen. 

Aus dem Publikum wurde ebenfalls eingeworfen, dass ein gewisses Maß an Arbeit an sich selbst auch wichtig wäre, um das Gesundheitssystem überhaupt aufrecht erhalten zu können. Gesunde Versicherte wären die besten Versicherten. Wo liegt der Kipppunkt zwischen berechtigter Arbeit an sich selbst und ungesunder Selbstoptimierung? Laut Ferrer Rivero ist dieser an dem Punkt erreicht, an dem man zusätzlichen Stress empfände und es einem nicht mehr gut gehe. Deutliche Anzeichen dafür seien psychosomatische Beschwerden. Dies konnte Psychologin Julia Schreiber bestätigen. Während körperliche Schäden offensichtlicher zu erkennen seien, seien psychische Folgen, wie Depressionen oder Angststörungen, schwerer zu identifizieren. Häufig fände ein hier fließender Übergang statt.

Vier Menschen sitzen auf einer Bühne

Die Expert:innenrunde des XChange (v.l.n.r.): Diana Lindner, Ricardo Ferrer Rivero, Julia Schreiber und Moderator Jan Sedelies.

Stimmen aus dem Publikum

Auch das Publikum war immer wieder gefragt sich einzubringen. Dieses beschäftigte unter anderem die Frage, ob Selbstoptimierung nicht bedeutet, dass man sich nicht selbst annimmt. Ferrer Rivero konnte dies für sich nicht bestätigen und verwies auf die Sichtweise, dass es wichtig sei zu sehen, dass man nicht allein lebe, sondern in eine Gesellschaft eingebunden sei. Und für diese wäre es hilfreich, an sich selbst zu arbeiten, damit die Gesamtgesellschaft besser würde. Wenn alle egoistisch seien, komme die Gesellschaft nicht weiter. Sein Einwand machte klar, dass es sowohl individuelle als auch gesellschaftliche Motive für Selbstoptimierung gibt. Aus dem Publikum kam hierzu der Hinweis, dass vor allem auch Werbung und verschiedene gesellschaftliche Strömungen großen Einfluss haben. Dies wurde von Julia Schreiber bestätigt. Inwiefern sich ein Individuum dann wiederum beeinflussen lasse, hinge jedoch stark von der Persönlichkeit und Sozialisierung ab, denn Menschen seien sehr unterschiedlich empfänglich für Anforderungen von außen. Des Weiteren wurde die kapitalistische Gesellschaftsstruktur als eine Ursache für die immer weiterdrehende Spirale der Anforderungen genannt. Selbstoptimierung ist ein großer Markt und bringt eine Menge Geld. 

Neben diesen negativen Gedanken wurde gemeinsam auch über Lösungen nachgedacht. Verschiedene Personen im Publikum appellierten dazu, wieder zu lernen mehr auf sich selbst zu hören und nicht nur auf Zahlen zu hören. Wie viele Schritte man gegangen sei am Tag sei doch egal, solange man mit sich selbst zufrieden sei und sich wohl fühle. Selbstakzeptanz und Selbstvertrauen könnten ein Schlüssel sein. Bodypositivity wäre derzeit ein Trend, der in die richtige Richtung gehen könnte. Ricardo Ferrer Rivero empfiehlt die Besinnung zurück auf Jahrhunderte alte Techniken von Naturvölkern, wie Körperarbeit, Atemtechniken und Meditationen.

Und die Politik? Welche Rolle spielt diese im Phänomen der Selbstoptimierung? Leider habe diese nur die Möglichkeit, Anreize zu geben. Wichtig seien Bildung und Aufklärung, so Diana Lindner. Ebenfalls wichtig ist laut Publikum die Abkehr von dem Bild, dass man keine Fehler machen dürfe. Die Frage, seit wann Unvollkommenheit aus der Mode gekommen sei, konnte Diana Lindner soziologisch damit beantworten, dass wir in unserer Welt ständig mit unseren Fehlern konfrontiert würden. Wir lebten in einer Kultur, die keine Scheiterkultur sei, und somit mit einem hohen Leistungsdruck einherkomme. Da sei es schwierig nicht mitzumachen. Umso wichtiger wäre es, über Werte zu sprechen. Ist Unvollkommenheit vielleicht nicht ein Wert, der über anderen stehen sollte?

Zu einer Lösung können auch gesellschaftliche Entwicklungen beitragen. Der derzeitige Arbeitnehmendenmarkt hat z.B. schon zu gesünderen Arbeitsbedingungen geführt, da den Arbeitnehmenden eine gute Balance von Arbeit und Privatleben wichtig sei und sie nun in der Situation wären, diese auch einfordern zu können.

Sie haben gute Vorsätze fürs neue Jahr? Dann spüren Sie erst einmal in sich hinein, ob es das ist, was Sie wirklich benötigen. Und gehen Sie es langsam an.

Sketch note der Veranstaltung Selbstoptimierung

Download

Die gesamte Sketchnote mit Kernaussagen der Referent:innen sowie die mit dem Publikum gemeinsam erarbeiteten Take-Home-Messages aus der Veranstaltung findet sich hier zum Download.

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