Anemar Bruno Kanj
Story

Wie ein Sechser im Lotto

Andrea Hoferichter

Von einem Chemiker aus Syrien, der auszog, um Frieden zu suchen – und am Karlsruher Institut für Technologie ein Stück neue Heimat fand. Eine wahre Geschichte mit einem fast perfekten Happy End.

Das Glück kam als vorweihnachtliches Geschenk. "Ich erinnere mich noch genau", sagt Anemar Bruno Kanj. Der aus Syrien geflüchtete Chemiker – Jeans, Turnschuhe, strahlende Augen und ein einnehmendes Lächeln – war einen Tag vor Heiligabend mit seinem Cousin in Straßburg unterwegs, als sein Handy klingelte.

Der Anruf kam aus dem Karlsruher Institut für Technologie (KIT): Bruno, wie der Syrer in Deutschland genannt werden möchte, könne ab Januar seine Doktorarbeit am KIT beginnen. "Ich habe vor Freude auf der Straße getanzt", erzählt er.

Wie Kanj und das KIT zusammenkamen? "Das war reiner Zufall", sagt er. Ein Freund habe einen Freund des KIT-Forschers Dr. Lars Heinke getroffen, der auf der Suche nach einem Chemie-Doktoranden war. Schnell wurde ein erstes Treffen vereinbart. "Bruno mochte das KIT, und wir mochten Bruno", erzählt Heinke. Gemeinsam schrieben sie den Antrag für eine zusätzliche Stelle in einem schon laufenden, von der VolkswagenStiftung geförderten Projekt – und hatten Erfolg. Das Refugee Researcher Programm der Stiftung machte es möglich.

Anemar Bruno Kanj und Lars Heinke (re) im Labor

Anemar Bruno Kanj und Lars Heinke (re) im Labor 

Anemar Bruno Kanj mit Atommodell

Kanj mit Atommodell 

Die Arbeitsgruppe am KIT wurde rasch zu Kanjs Lebensmittelpunkt. Oft bleibt er bis in die Abendstunden. Er beschäftigt sich mit Materialien, die in Zukunft als Miniaturmaschinen ihren Dienst tun könnten, ferngesteuert durch Licht. Diese "metallorganischen Gerüststrukturen" oder kurz MOFs (Metal-Organic Frameworks) haben ein dreidimensionales Grundgerüst aus Kohlenstoffketten und "Metallknoten", das an das Skelett eines Mehrfamilienhauses erinnert. "Das Thema boomt seit vielen Jahren", berichtet Projektleiter Heinke. In den maßgeschneiderten Poren der MOFs lassen sich zum Beispiel in großen Mengen Gase speichern, etwa Methan für Brennstoffzellen oder das Treibhausgas Kohlendioxid.

Die Karlsruher Forscher allerdings haben mit den Substanzen etwas anderes vor. Sie spicken die MOFs mit molekularen Anhängseln, die ihre Struktur ändern, wenn sichtbares Licht einer bestimmten Wellenlänge eingestrahlt wird. Die beweglichen Bauteile können etwa auf- und zuklappen wie Scheunentore, sich strecken oder zusammenziehen, sich ein- und wieder ausdrehen. Geschickt kombiniert können daraus nanometerkleine Pumpen, Fließbänder und sogar Teilchen entstehen, die wie auf Beinen laufen. Membranen, die lichtgesteuert nur bestimmte Moleküle in einstellbaren Mengen durchlassen, haben die Wissenschaftler bereits hergestellt.

Kanj testet die Qualität der Materialien und ob sich unter Licht tatsächlich etwas bewegt. "Es gibt schon erste Erfolge", verrät er. Eines der nächsten Ziele ist, Tausende solcher Moleküle so miteinander zu verknüpfen, dass sie Kräfte im Newtonbereich entwickeln und ihre Bewegungen auch unter einem Lichtmikroskop zu erkennen sind. Den Forschern geht es dabei nicht vorrangig um konkrete Anwendungen. Sie wollen erst einmal zeigen, was überhaupt möglich ist. Wenn Kanj, Heinke und Kai Müller, der Dritte im MOF-Team, im Büro fachsimpeln, sprechen sie Englisch. Zum einen, weil Kanj seinen Ganztags-Deutschkurs wegen des neuen Jobs nicht beenden konnte, zum anderen, weil Englisch am KIT ohnehin eine Art Amtssprache ist.

MOF-Membranen im Fünf-Cent-Format

MOF-Membranen im Fünf-Cent-Format. 

Anemar Bruno Kanj im Labor

Das Labor am KIT ist für Anemar Bruno Kanj wie ein Stück Heimat.

Viele Wissenschaftler kommen aus dem Ausland, etwa aus Indien, China und Ägypten. Kanj mag das. "Es ist sehr spannend, so viel aus anderen Kulturen zu erfahren." Am wohlsten fühlt sich der Chemiker im Labor. "Das ist wie ein Stück Heimat für mich", sagt er. Schließlich verbrachte er auch als Student der Al-Baath-Universität im syrischen Homs viel Zeit im Labor, forschte dort für seine Bachelor- und seine Masterarbeit und leitete schließlich ein vierköpfiges Studententeam. Aber der Krieg war immer präsent. Zweimal schlugen Granaten in die etwas abseits gelegene Universität ein, glücklicherweise wurde niemand verletzt. Das Zentrum von Homs hingegen lag schon zu großen Teilen in Schutt und Asche. Viele Menschen waren umgekommen.

Bleiben kam für Kanj deshalb nicht infrage. Nachdem er seinen Master in angewandter Chemie in der Tasche hatte, floh er im Herbst 2015 mit zwei Freunden über die Balkanroute, fuhr manche Strecken zusammengepfercht mit 30, 40 anderen Flüchtlingen in kleinen Lieferwagen, in Serbien reiste er als Beifahrer auf dem Motorrad.  "Es ging immer weiter, ich hatte viel Glück", sagt er. Zwei Wochen dauerte die Flucht, die im Aufnahmelager Gießen endete. Von Willkommenskultur sei damals noch nichts zu spüren gewesen, erzählt Kanj. "Ich fühlte mich den Entscheidern ziemlich ausgeliefert." Nach Gießen folgten Notunterkünfte in kleineren Orten – "zum Teil mit Friedhofsatmosphäre" – und immer ohne private Rückzugsmöglichkeiten. Am schlimmsten aber war das Warten. Es verging fast ein Jahr ohne Beschäftigung, ohne das Recht zu haben, irgendetwas zu tun.

Glücklicherweise habe er öfter Besuch von seinem Onkel bekommen, der schon seit den 1960er-Jahren in Straßburg lebe, erzählt Anemar Bruno Kanj. "Das hat mich gerettet." Als sein Asylantrag im Juli 2016 endlich genehmigt ist, revanchiert er sich und fährt gleich nach Straßburg. Er genießt es, zum ersten Mal wieder ein richtiges Wohnhaus zu betreten. "In eine Familie zu kommen, die einen mit Liebe aufnimmt, das war ein wahnsinnig schönes Gefühl", erinnert er sich.

Die Doktorandenstelle am KIT war dann der zweite Durchbruch. "Jetzt macht es endlich Sinn, hierhergekommen zu sein. Ich habe eine Aufgabe, eine Arbeit und werde aller Voraussicht nach einen deutschen Doktortitel bekommen. Das gibt mir Selbstvertrauen", betont er. Und Kanj mag Karlsruhe. Die Stadt erinnert ihn an Homs vor dem Krieg, nicht zu groß und nicht zu klein, "einfach gemütlich". Fast alles sei zu Fuß erreichbar. Auch das Wetter passt: "Karlsruhe ist immerhin die zweitwärmste Stadt Deutschlands." Er bewohnt ein Zimmer in einer Dreier-Studenten-WG. Doch sein Traum ist eine eigene Wohnung. 

In der knapp bemessenen Freizeit skypt der Chemiker oft mit seinen Eltern, die zurzeit zwischen Syrien und Saudi-Arabien, wo seine Schwester lebt, hin- und herreisen. Gern hört er Musik oder liest Bücher. Er mag Beethoven und Händel, Philosophie, den Fußballclub Real Madrid und Speisen, wie seine Mutter sie kocht: syrisch-libanesisch. Aber auch das Mensaessen sei in Ordnung, sagt er. Und Kanj hat eine Frucht entdeckt, die in Deutschland genauso schmeckt wie in Syrien: Kirschen. Ob er irgendwann nach Syrien zurückkehren möchte? "Nein, niemals", sagt er mit Nachdruck.

Lars Heinke, Anemar Bruno Kanj und Kai Müller

Ein starkes Team auf dem Weg nach oben: Lars Heinke, Anemar Bruno Kanj und Kai Müller
(von links)

"Selbst wenn der Krieg irgendwann vorbei ist, wäre es nicht mehr das gleiche Land." Alles, was Heimat ausmache, Freunde und Familie, gäbe es dort nicht mehr. Gleichwohl fehlen ihm die Eltern: "Wir haben eine sehr enge Verbindung. Ich vermisse sie." Ein Treffen in Saudi-Arabien sei denkbar, aber als Asylant bekomme er nur schwer ein Visum für das außereuropäische Ausland. Jammern und klagen kommt für Kanj trotzdem nicht infrage. "Ich kann es immer noch nicht fassen, dass ich hier in Deutschland als Chemiker arbeiten darf", sagt er. So sehr fühlt er sich vom Glück begünstigt, dass er ernsthaft ans Lotto-Spielen denkt. Davon könnten auch die Kollegen profitieren: "Wenn ich gewinne, gebe ich eine Runde aus."

Anemar Bruno Kanj im Schlosspark in Karlsruhe

Im Schlosspark in Karlsruhe 

Förderangebot für geflohene Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler

Die Stiftung bietet Unterstützung auf zweierlei Art: 

  1. Derzeit oder in den vergangenen zehn Jahren von der Stiftung Geförderte können im Rahmen eines Stipendienprogramms einen Gastwissenschaftler/ eine Gastwissenschaftlerin bis zu zwei Jahre in ihren Forschungskontext einbinden. 
  2. Aktuell von der Stiftung Geförderte können alternativ Zusatzmittel für bis zu drei Jahre beantragen, um in Ergänzung zu ihrem Forschungsprojekt geflohene Wissenschaftler(innen) dort zu integrieren.

Informationen unter Förderangebot für geflohene Wissenschaftler(innen)

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