Wie der berühmte Pawlowsche Hund?
Tübinger Forscherinnen wollen herausfinden, ob Pflanzen vergleichbare Reflexe zeigen – und deshalb als lernfähig gelten können.
Mimosen werden ihrem sprichwörtlichen Image in erstaunlichem Maße gerecht. Sie sind wirklich schnell beleidigt. Eine winzige Berührung, und schon klappen die jungen Pflanzen im Labor erschreckt die zarten, fedrigen Blättchen ein.
Unter Menschen ist solch eine Empfindsamkeit mindestens seit dem viktorianischen Zeitalter selbst bei adligen Damen nicht mehr in Mode. Den Pflanzen hingegen beschert sie nun eine überraschende Forschungskarriere.
"Für uns ist die Mimose die perfekte Testpflanze. Ihr können wir sofort ansehen, ob sie etwas lernt", erklärt Katja Tielbörger, Professorin am Institut für Evolution und Ökologie der Universität Tübingen.
Tielbörger und ihre Mitstreiterin Michal Gruntman arbeiten an einem ungewöhnlichen Forschungsprojekt. Sie wollen die grundlegende Frage beantworten: Können Pflanzen lernen? Bislang waren sich Biologen einig: Wer etwas lernen will, braucht ein Gehirn – deshalb kann man Tieren etwas beibringen und Pflanzen nicht. So einfach, so klar.
Die Tübinger Botanikerinnen stellen dies mit ihrem Projekt "Pawlowsche Pflanzen" grundsätzlich infrage. Dafür werden sie von Teilen der Fachwelt misstrauisch beäugt, die VolkswagenStiftung hingegen fördert das Vorhaben – gerade weil es eine besondere und radikal neue Forschungsidee ist.
Für sie passt das Projekt ideal in die Förderinitiative "Experiment!", die zur ersten wissenschaftlichen Erkundung mutiger Forschungsideen anregen soll.
"Pflanzen stehen in unserer Wahrnehmung herum und sehen nett aus. Deshalb gibt es das Vorurteil, sie wären langweilige Zeitgenossen", sagt Tielbörger. "Aber gerade weil sie vor Fressfeinden nicht weglaufen können, müssen sie ja irgendwelche Überlebensstrategien haben." Ein Beispiel dafür sind Tabakpflanzen, die sich mit giftigen Abwehrstoffen gegen Fressfeinde wehren.
Auch die Mimose ist keineswegs nur eine wehleidige Spaßbremse: Zwar klappt sie bei Berührungen ihre Blätter rasch ein, weil sie sich schützen will, fasst man sie aber allzu oft an, scheint sie – sozusagen – die richtige Schlussfolgerung zu ziehen und reagiert nicht mehr. "Anscheinend lernt sie, dass ihr etwas vorgegaukelt wird", fügt Michal Gruntman hinzu.
Mit diesem Verhalten ist die Mimose ideal für das Projekt, dessen Titel "Pawlowsche Pflanzen" auf das berühmte Experiment des Physiologen Iwan Pawlow anspielt. Er hatte Hunde darauf konditioniert, dass dem Futter – als echtem Reiz – immer der Klang einer Glocke vorausgeht. Bald begannen die Hunde schon beim Läuten, also beim unechten Reiz, zu speicheln.
"Pflanzen haben zwar kein Gehirn und kein Nervensystem wie Hunde, aber sie sind auf anderen Wegen lernfähig. Sie nehmen ihre Umwelt wahr und reagieren sinnvoll auf sie", betont Tielbörger.
In nun fast zwei Jahren Forschungszeit testeten die Botanikerinnen drei sehr unterschiedliche Pflanzenarten auf ihre Fähigkeit, einen unechten Reiz mit einem echten Reiz zu verbinden: Mimosen, Venusfliegenfallen und die Ackerschmalwand – die klassische Modellpflanze der Biologen. Der fleischfressenden Venusfliegenfalle bescherte eine Beleuchtung mit blauem Licht als unechtem Reiz stets eine ordentliche Ladung Futter, bei der Mimose wurde vor der Attacke mit einem Zahnstocher helles Licht von oben eingeschaltet. Bei der Ackerschmalwand wurde der Lichtreiz mit einem Gravitationsreiz – durch Kippen der Pflanztöpfe – kombiniert.
Die Ackerschmalwand und die Venusfliegenfalle erwiesen sich als eher ungeeignet. "Die Venusfliegenfalle hat ihre Lieblingsspeisen, Hühnereiweiß oder Fliegen, immer eine Woche lang verdaut. Nach einer so langen Zeit hatte sie den Zusammenhang zwischen blauem Licht und Futter aber schon wieder vergessen", sagt Gruntman lakonisch.
Die Mimose hingegen lernte tatsächlich, dass auf blaues Licht stets ein Angriff mit dem unheilvollen Stäbchen folgte – in eilfertiger Voraussicht klappte sie nach dreimaligem "Training" schon beim Schein des Lichts ihre Blätter ein. Das wurde mit einer Kamera dokumentiert, die jede Sekunde ein Foto schoss. Doch nach drei Tagen war Schluss – die Mimosen reagierten überhaupt nicht mehr.
"Hat sie die Schlussfolgerung gezogen, dass sie nicht gefressen wird? Wir wissen es leider nicht", erklärt Gruntman. Ein anderes Experiment war vielversprechender. "Wir ließen die Mimosen sehr lange im Dunkeln, um dann für nur zehn Minuten zur immer gleichen Uhrzeit das Licht anzuschalten. Die Pflanze musste also die kurze Lichtperiode gut nutzen, um Photosynthese betreiben zu können." Die Mimosen begannen rasch, auf das übliche Verhalten zu verzichten, in der Dunkelheit die Blätter einzufalten – so konnten sie sie bei Lichteinfall schneller hochrecken und die künstliche Sonne auskosten. "Die Experimente sind vielversprechend, wir benötigen aber mehr Wiederholungen, um den Zusammenhang signifikant dokumentieren zu können", sagt Tielbörger.
Die Forscherinnen brennen auch nach der ersten Exploration für ihr Vorhaben und die Mission, die Pflanzen dieser Welt von ihrem Image als bloßem 'Grünzeug' zu befreien. "Unsere Fragestellung ist tatsächlich etwas verrückt", lacht Tielbörger. "Aber es ist toll, wenn man völlig unbekannte Forschungspfade einschlagen darf. Warum machen Pflanzen so etwas? Wir wissen darüber eigentlich nichts." Ein Anfang ist gemacht, dass sich das jetzt ändert.