Verhaltensbiologie - Das Geheimnis der Seehunde
Meeressäuger sind faszinierende Wesen. Besonders ihr visuelles System und wie es etwa zur Orientierung unter Wasser beiträgt, ist immer noch ein Rätsel. Frederike Hanke von der Universität Rostock will das ändern.
Frederike Hanke hatte schon immer eine besondere Beziehung zu Tieren. "Ich bin recht ländlich aufgewachsen und da gab es ganz in der Nähe des Hauses meiner Eltern eine Schweinewiese. Da war ich als kleines Kind oft stundenlang und habe zugeschaut, wie die Tiere fressen oder sich im Schlamm wälzen." Besonders faszinierend fand sie Lebewesen, die ganz anders waren als die üblichen Haustiere, die sie aber dennoch versuchte, wie solche zu halten. Ihre Weinbergschnecken, die ihr ständig ausbüxten, markierte sie mit farbigen Punkten, um sie leichter wiederzufinden. Grashüpfer wurden mit viel Mühe in Terrarien gelockt. "Meine Mutter hat mir kürzlich erzählt, dass sie schon immer dachte: Irgendwann sitzt Frederike im Dschungel und beobachtet Affen."
Es ist dann ein bisschen anders gekommen. Aber nur fast. Statt des Regenwalds hat Frederike Hanke, Professorin am Institut für Biowissenschaften der Universität Rostock, irgendwann ein anderer, faszinierender Lebensraum gepackt: das Meer. Und anstatt perfekt an ihre Umgebung angepasste Urwaldbewohner zu beobachten, erforscht sie inzwischen Lebewesen, die sich gleich in zwei vollkommen unterschiedlichen Lebensräumen auf beeindruckende Art und Weise zurechtfinden: Seehunde, die scheinbar mühelos zwischen Land und Wasser wechseln.
Aktuell 15 solcher amphibisch lebenden Tiere tummeln sich in einer 100 mal 30 Meter großen Anlage am Arbeitsplatz von Hanke im Yachthafen von Rostock-Hohe Düne, dem Marine Science Center der Universität Rostock. Sie hören auf Namen wie Filou, Luca, Bill, Henry oder Marco, fressen große Mengen an Fisch und sind die Hauptprotagonisten in einer ganzen Reihe von Experimenten, die Hanke und ihr Team sich für sie ausdenkt. "Robben sind wirklich extrem spannende Tiere", schwärmt Hanke, die seit 2008 am Marine Science Center forscht und 2019 mit einer Lichtenberg-Professur der Volkswagenstiftung ausgezeichnet wurde. Gearbeitet wird dort mit verschiedenen Robbenarten, darunter die Seehunde, die mit zwölf Tieren die größte Gruppe bilden, sowie zwei Kalifornischen Seelöwen und einem Südafrikanischen Seebären. Die Biologin interessiert, wie das visuelle System der Tiere unter Wasser funktioniert und besonders zur Orientierung genutzt wird – aber auch wie die Sinnessysteme zusammenarbeiten, um den Tieren ein ganzheitliches Bild ihrer Umgebung zu liefern.
Wie sehen Robben?
Das erste Mal aufmerksam auf die Tiere wurde Hanke im Rahmen einer Exkursion in den Kölner Zoo. Das war noch während ihres Biologiestudiums in Freiburg. Dort lernte sie die Forschung von Guido Dehnhardt kennen, der damals noch in Köln zu den sensorischen und kognitiven Fähigkeiten von Robben arbeitete. "Wir hatten die Gelegenheit, die Tiere aus nächster Nähe kennenzulernen. Da ist sofort ein Funke übergesprungen", erinnert sich Hanke. "Die sind einfach so ganz anders. Natürlich als wir Menschen, aber auch als die Tiere, mit denen wir sonst so zu tun haben. Ich habe mich sofort gefragt: Diese enormen Freiheitsgrade, die Robben unter Wasser haben, dieses Drehen in alle Richtungen, das muss doch zu einer ganz anderen Art von Wahrnehmung führen."
Das Interesse für die Arbeit mit Robben blieb. Hanke absolvierte ein Kurzpraktikum in Köln und fragte, immer noch Studentin in Freiburg, ob sie nicht auch ihre Diplomarbeit bei den Seehunden anfertigen könne. Sie konnte, und es war Guido Dehnhardt, der ihr ein Forschungsthema vorschlug, das bis heute ihr Hauptschwerpunkt geblieben ist: das Auge des Seehunds. "Ich hatte wirklich Glück, denn das visuelle System der Tiere war bis dahin noch nie wirklich systematisch untersucht worden. Es gab hier und da natürlich Studien. Aber man hatte nie das Gefühl, dass die Forschenden wirklich im Detail verstehen wollten, was genau passiert, wenn Meeressäuger optische Reize verarbeiten", so Hanke. Also im Grunde die perfekte Ausgangslage für eine junge Forscherin: Ein bislang noch relativ wenig bearbeitetes Feld, in dem – mit viel Arbeit und ein bisschen Glück – Spannendes, Überraschendes entdeckt werden kann.
Vorausgesetzt, es gibt überhaupt etwas zu entdecken. Denn es hatte Gründe, dass sich lange niemand so recht für das Auge von Meeressäugern wie Seehunden interessierte, wie Frederike Hanke erklärt: "Man war überzeugt, dass für diese Tiere das visuelle System eigentlich keine große Rolle spielen kann. Schließlich herrschen im Wasser sehr oft Bedingungen, die gar nicht geeignet sind für ein gutes Sehen unter Wasser. Oft ist es dunkel oder trüb." Doch so ganz wollte die Forscherin das nicht glauben. "Ich fand es schon immer falsch, zu sagen, jenes sensorische System ist wichtiger als ein anderes. Wenn Seehunde Augen haben, dann werden sie sie auch benutzen."
Optischer Fluss
Ihre Hartnäckigkeit und wissenschaftliche Neugierde führten die Forscherin auf eine vielversprechende Spur. Schon 2014 wurde am Marine Science Center spekuliert, dass Seehunde ihr visuelles System vielleicht tatsächlich viel stärker zur Unterwasserorientierung nutzen als angenommen. Spannend ist der damals aufkeimende Gedanke, dass ihnen die Partikel, welche die Sicht auf den ersten Blick schlecht machen, dabei sogar helfen könnten. Verantwortlich dafür ist der sogenannte optische Fluss, das Bewegungsmuster, welches z.B. im Auge des Seehunds entsteht, wenn er sich durch seine Umwelt bewegt.
Optischer Fluss wird von vielen Lebewesen, sogar Insekten, zur Orientierung im Raum genutzt wird. "Stellen Sie sich vor, Sie fahren mit dem Fahrrad durch den Wald. Dann bewegen sich die Bäume und Sträucher scheinbar an ihnen vorbei", erklärt sie. Aus diesem Bewegungsmuster bestimme das Gehirn dann zum Beispiel in welche Richtung wir uns bewegen, wie weit Objekte von uns entfernt sind oder wann wir mit einem Objekt zu kollidieren drohen.
Beim Schwimmen in trübem Wasser erleben Seehunde sehr wahrscheinlich optischen Fluss. Die in der Bewegung vorbeiziehenden Partikel könnten den Tieren eine ständige Rückmeldung zum Beispiel darüber geben, mit welcher Geschwindigkeit und in welcher Richtung sie sich fortbewegen. Das jedenfalls legt ein Verhaltensexperiment nahe. Auf einer Unterwasserleinwand wurde einem Tier eine sich bewegende Partikelwolke projiziert, die eine Vorwärtsbewegung durch eine Partikelwolke simulierte. "Es war ganz auffällig, zu sehen, wie das Tier förmlich in die Projektion hineingezogen wurde", so Hanke.
Für Hanke eröffnet sich hier ein neues, spannendes Forschungsfeld, welches von optischen Phänomenen wie dem optischen Fluss bis zu visueller Orientierung – und sogar auch bis zu visueller Neuroanatomie – reicht. "Im Augenblick ist uns zum Beispiel noch relativ unklar, wie Meeressäuger sich im offenen Meer orientieren. Wie sie es beispielsweise schaffen, ganz gezielt wieder zu ihren Ruheplätzen zurückzukehren, nachdem sie auf Beutesuche waren."
Für Forschung begeistern
Mithilfe den ihr noch bis 2024 zur Verfügung stehenden Fördermitteln der Lichtenberg-Professur will die Forscherin ihren Hypothesen weiter nachgehen. Demnächst sollen optische Flussreize auf einem in einem Unterwassergehäuse integrierten 82 Zoll großen Monitor präsentiert werden, der Partikelwolken noch präziser und großflächiger darstellen kann, so die Hoffnung der Forscherin. Eigentlich sollte das Gerät bereits im Einsatz sein, durch Corona kam es zu Verzögerungen. "Einen so großen Bildschirm unterwassertauglich zu machen, ist nicht trivial und weltweit einmalig. Zusammen mit Schutzgehäuse wird das Ganze am Ende eine Tonne wiegen", erklärt die Forscherin.
Auch ein weiteres großes Gerät soll bald zum Einsatz kommen: eine von der Firma Siemens zur Verfügung gestellte MRT-Röhre, allerdings ohne Messeinheit. Damit will Hanke in ihrer Forschung gewissermaßen noch einen Schritt weitergehen und von der Beschreibung der Sensorik in der Peripherie schließlich dorthin vorstoßen, wo die Reize am Ende ankommen und verarbeitet werden: im Gehirn des Lebewesens. "Ich finde es faszinierend, sich vorzustellen, was im Gehirn eines Meeressäugers abläuft, wenn er sich unter Wasser bewegt", berichtet Hanke. Konkrete Anwendungsszenarien ihrer Forschung hat die Biologin dabei nicht im Sinn. "Natürlich könnte unsere Forschung etwa für die Steuerung von Unterwasserrobotern spannend sein. Ich sehe mich da aber mehr als Grundlagenforscherin. Mein Ziel ist es, zu verstehen: Wie funktioniert das Auge? Wie funktioniert visuelle Wahrnehmung?"
Durchgeführt und ausgewertet werden alle Experimente des 2008 in Betrieb genommenen Marine Science Center auf der "Lichtenberg", einem umgebauten Flussfahrgastschiff. "Das hat jetzt schon ca. 70 Jahre auf dem Buckel, fuhr schon zu DDR-Zeiten auf der Berliner Spree. Es wurde sogar für einen spektakulären Fluchtversuch genutzt", spricht Hanke respektvoll von ihrem Arbeitsplatz. Für seinen Einsatz wurde das 53 Meter lange Schiff komplett entkernt und mit Büros, Werkstätten, Laboren und Lager ausgestattet.
Vom Sonnendeck können Besucher:innen, darunter auch viele Schulklassen, den Forschern und den Robben bei der Arbeit zusehen. "Diese Öffentlichkeitsarbeit ist uns wichtig", erklärt Hanke. "Ich denke, wir haben als Forscherinnen und Forscher den Auftrag, am Ende nicht nur Ergebnisse zu präsentieren, sondern auch den Prozess zu zeigen, wie wir dazu gelangt sind." Es sei vor allem die Faszination der Tiere, welche die Besucher:innen zu ihnen locke, so Hanke. Im Grunde wie bei ihr selbst. "Es war schon immer die Neugierde auf das Andere, Fremde, die mich angetrieben hat."