Robotik in der Altenpflege: Maschinen, die beim Menschsein helfen
Welche Konsequenzen hat Automatisierung in der Pflege für Lebensqualität und Würde alter Menschen? Ein interdisziplinäres Forschungsteam will Konzepte entwickeln, die sich an den Bedürfnissen alter Menschen und deren Pflegekräften orientieren. Das Ergebnis: außergewöhnliche Ideen, die mitunter an Tabus rütteln.
Es ist eine Schreckensvision: In einem Pflegeheim hebt ein Roboter die Bewohner aus dem Bett und füttert sie. Die alten Menschen tragen zwar saubere Unterwäsche und verfügen über einen vollen Magen. Doch emotionale Wärme erleben sie keine. Denn die einzige zugängliche Person ist eine Maschine und kann Mitgefühl nur vortäuschen – indem sie ab und zu ein freundliches Wort aus dem Lautsprecher knarzt.
An solche oder so ähnliche Szenarien denken vielen Menschen, wenn sie an Robotik in der Altenpflege denken. Und damit liegen sie gar nicht so falsch: "Viele der derzeit in der Forschung verfolgten Visionen von Pflegerobotern, die menschliche Pflege ersetzen, sind menschenunwürdig. Da sind sich Forschende aus Ethik und Pflegewissenschaften einig", sagt Eva Hornecker, Professorin für Human Computer Interaction an der Bauhaus-Universität Weimar. In dem interdisziplinären Forschungsprojekt ReThiCare – Rethinking Care Robots will sie gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen Konzepte für robotische Assistenzsysteme entwickeln, die menschenwürdig und nützlich sind. Die Forschungsgruppe fragt: Wann sind welche Technologien wirklich sinnvoll für alte Menschen und Pflegekräfte? Und wie können sie so gestaltet werden, dass sowohl die Bedürfnisse der Menschen respektiert als auch ihre Würde gewahrt werden kann? Die VolkswagenStiftung fördert das Projekt im Rahmen der Initiative "Künstliche Intelligenz – Ihre Auswirkungen auf die Gesellschaft von morgen".
Soziale Roboter können Kommunikation nur simulieren
Tatsächlich dreht sich die Forschung bisher vornehmlich um zwei Arten von Pflegerobotik. Die erste Kategorie machen humanoide, also menschlich anmutende Roboter aus, die eine soziale Interaktion simulieren und menschliche Kontakte ersetzen sollen. "Die zweite Kategorie sind Service-Roboter, die mechanische Pflegeleistungen übernehmen, also zum Beispiel Menschen aus dem Bett heben", erklärt Eva Hornecker. Das Problem: Bei beiden Ansätzen ist eigentlich klar, dass sie mittelfristig nicht einsetzbar sind.
"Es ist ethisch nicht vertretbar, alten Menschen eine Maschine vorzusetzen, die eine soziale - und vor allem eine emotionale - Interaktion vortäuscht", betont Hornecker. Dies würde Erwartungen an eine auf Gegenseitigkeit beruhende Beziehung wecken, die zwangsläufig enttäuscht würde. Zwar vermitteln Filme und Medien ein anderes Bild, doch Künstliche Intelligenz ist sehr weit davon entfernt, ein Bewusstsein zu entwickeln und Gefühle empfinden zu können. Wenn ein humanoider Roboter als soziales Gegenüber alten Menschen Anteilnahme und Interesse vorspielt, so ist dies letztlich eine Täuschung.
Auch die zweite Kategorie entspricht nicht den Bedürfnissen der Menschen und den praktischen Anforderungen. "Es erfordert enormes Feingefühl und komplizierte Motorik, um alte und gebrechliche Menschen zu heben und zu transportieren. Die Technik ist noch nicht so weit, um derart sensible Maschinen bauen zu können", sagt die Informatikerin und Ingenieurin. Das Ergebnis ist nicht überraschend: Trotz der hohen Forschungsaufwendungen - und viel medialer Aufmerksamkeit - sind Roboter in der Altenpflege oder in ähnlichen Einrichtungen bislang kaum zu finden.
Neue Denkansätze müssen her
"Um den Entwicklungsprozess intelligenter Technologien zu überdenken, braucht die Wissenschaft dringend neue Ansätze und Methoden", sagt Hornecker. Deshalb arbeiten in dem Forschungsprojekt Expertinnen und Experten aus Soziologie, Mensch-Computer-Interaktion, Design, sowie Robotik- und KI-Experten, die verschiedenste Perspektiven einfließen lassen. Ihre Vision: Anstelle von humanoiden "Menschenersatz"-Robotern wollen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler intelligente robotische Assistenzsysteme einsetzen.
Das Ziel des Projekts ist die Entwicklung verschiedener Ideen und praktischer Konzepte, die die Arbeit des Personals und das emotionale und körperliche Wohlbefinden der Bewohnerinnen und Bewohner unterstützen. Dabei geht es zunächst nicht unbedingt darum, funktionsfähige Prototypen zu entwickeln. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler wollen unter anderem neue Möglichkeiten und Methoden aufzeigen, wie eine bedarfsorientierte und menschliche Haltung in die Forschung einfließen kann.
"Um dieses Ziel zu erreichen, müssen wir weg von der klassischen Silicon Valley-Methode: Man hat eine neue, innovative technische Lösung – und sucht das passende Problem", sagt Andreas Bischof, Techniksoziologe an der Technischen Universität Chemnitz und einer der Initiatoren des Projekts. "Es lohnt sich, erst einmal ohne Technik im Hinterkopf das Problem zu betrachten."
Diagnose: Langeweile und sterbende Zimmerpflanzen
Und so wagten die Forscherinnen und Forscher einen ungewöhnlichen Schritt in die reale Welt: Sie verbrachten Zeit in einem Pflegeheim. Vier Mitarbeitende des Projekts nahmen Teil am Alltag des Sophienhauses der Diakonie – einer Pflegeeinrichtung für alte Menschen in Weimar. Eine Wissenschaftlerin arbeitete sogar neun Wochen als Praktikantin dort, um einen umfassenden Einblick in den Alltag zu bekommen und die Herausforderungen des Pflegealltags zu verstehen.
Alle vier schrieben detailliert Tagebuch und notierten ihre Beobachtungen und Eindrücke. Aus diesen Tagebüchern konnten sie mit einer systematischen Analyse verschiedene Themengebiete herausarbeiten.
Eines davon ist banal wie verständlich: Langeweile. "Im Leben der alten Menschen fehlt Abwechslung – es passiert einfach nichts, worüber sich die Leute unterhalten können", sagt Andreas Bischof. Aus der Soziologie – Bischofs Fachgebiet – stammt der Terminus "Reziprozität": Es ist bekannt, dass für eine gelungene soziale Interaktion Reziprozität, also Gegenseitigkeit oder Wechselseitigkeit gegeben sein muss. Das gilt auch für Mensch-Maschine-Interaktion.
Ein Roboter, dem geholfen werden muss
Daraus ergab sich ein neues Gedankenexperiment: "Warum kann eine robotische Assistenz nicht daraus bestehen, dass Menschen den Robotern helfen - und nicht umgekehrt?", fragt Bischof. Das Ergebnis des Gedankenexperiments ist das Konzept für Sanne. Sanne erinnert an eine Katze und motiviert die Bewohner, sie zu streicheln – und sich dabei die Hände zu desinfizieren. Allerdings benötigt Sanne gelegentlich Hilfe, weil sie sich beispielsweise unterm Tisch einklemmt. Und so wird eine Situation geschaffen, die eine Handlung der Anwesenden erfordert und ein Thema einbringt, über das Menschen eigentlich immer gerne reden: Dinge, die nicht funktionieren.
Eine weitere Idee ist der "PWR" – ein Plant Watering Robot, dessen Entwicklung der Techniksoziologe Philipp Graf betreut. Dieser fährt selbstständig durch die Räume und hat eine wichtige Aufgabe: Pflanzen gießen. Allerdings ist auch er gelegentlich auf Hilfe angewiesen, man muss ihm beispielsweise die Tür öffnen oder Hindernisse aus dem Weg räumen.
"Einem Robotiker alleine würde so eine Lösung natürlich nicht einfallen, dafür braucht er Hilfe aus anderen Disziplinen", sagt Norbert Krüger schmunzelnd, Mathematiker und Professor für Robotik am Institut für Ingenieurswissenschaften an der Süd-Dänischen Universität in Odense. Doch natürlich trägt der Robotiker Entscheidendes bei. Er entwickelt die Robotik-Technologie für die Ideen, die die gesamte Gruppe gemeinsam entwickelt hat. Und die Projektkollegen wiederum nutzen auffallend häufig einen Begriff, den Krüger aus seinem Fachbereich beigesteuert hat: Den Technology Readiness Level (TRL). Das ist eine Skala von 1 bis 9, mit der sich der Entwicklungsstand einer Technologie messen lässt. "Wenn man nicht von der Technologie ausgeht, sondern umgekehrt von einem Bedürfnis, das erfüllt werden soll oder eine Lösung für eine Situation sucht: Dann braucht man unbedingt ein Maß dafür, wie weit die Idee zu einer Technologie bereits zu einem Produkt umgesetzt wurde – und wie schnell sie deshalb nutzbar ist".
Schon heute gut umsetzbar sind zum Beispiel die von der Forschungsgruppe entwickelten Konzepte für IntiMe und IntimUS: IntiMe ist eine Decke mit elektrischen Funktionen. Jemand kann sie sich auf den Körper legen. Dort, wo Menschen die Decke berühren, erwidert die Decke die Berührung mit Vibrationen. IntimUs wirkt wie eine Art überdimensionierter Handmuff mit mehreren Öffnungen für Hände. Er kann zum Beispiel auf einem Tisch liegen und reagiert mit Vibrationen und Geräuschen, wenn mindestens zwei Handpaare darin zusammenfinden. "Die meisten Menschen mögen Nähe und sehnen sich nach Körperkontakt und Sexualität. Das hört auch im Alter nicht auf", erklärt Eva Hornecker. Und so hat die hauptverantwortliche Forscherin Britta Schulte gemeinsam mit den Projektkollegen darüber nachgedacht, ob es hierfür kleine technische Lösungen geben könnte – ohne dass gleich eine menschenähnliche, aber unechte Projektionsfigur entstehen muss. "Sexualität und Selbstbefriedigung im Alter ist ein sehr sensibles Thema. Aber aus unseren Beobachtungen in den Heimen haben wir geschlossen, dass es Beachtung verdient."
Gegenstände berühren Menschen
Technische Geräte zu entwickeln für derart sensible Anwendungszwecke stellt enorm hohe Anforderungen an das Design. "Mit dem Einsatz von Robotik in der Pflege kommt eine neue Form der sozialen Interaktion in unser Leben", erklärt Wolfgang Sattler, Professor für Produkt Design an der Bauhaus-Universität Weimar und ebenfalls einer der Leiter des Projekts. "Und man darf nicht vergessen, dass nicht nur wir Gegenstände berühren – sondern sie berühren auch uns. Das Bedienen hat das Begreifen ersetzt."
Für Sattler ist das sogenannt Universal Design ein großes Ziel: "Auch Design und das Erscheinungsbild von Robotik kann stigmatisieren. Es kann aber auch genau das Gegenteil schaffen: Dafür sorgen, dass alle Menschen Dinge verwenden können, ohne sich ausgegrenzt zu fühlen." Als ein gutes Beispiel hat Sattler den smarten Löffel der Firma Liftware vor Augen. Menschen, die an Parkinson erkrankt sind, zittern häufig unkontrolliert. In Ruhe eine Suppe zu essen, ist für die Betroffenen häufig ein Ding der Unmöglichkeit. "Der Liftware Löffel sieht optisch schlicht aus und gleicht das Zittern der Kranken mit Bewegungssensoren so aus, dass sie eine Mahlzeit alleine zu sich nehmen können", erklärt Sattler. "Das wäre eines meiner Ziele für die robotischen Helfer. Damit Menschen solche Gegenstände in der Öffentlichkeit nutzen können, ohne sich herabgewürdigt zu fühlen." Dies seien alles kleine Schritte. "Die allumfassende Roboterlösung für die Probleme in Pflegeeinrichtungen gibt es nicht. Aber vielleicht ergeben 1000ende kleine Schritte eine Veränderung dahingehend, wie die Robotikforschung alte Menschen und Pflegekräfte unterstützen kann", sagt der Designer.
Und dafür braucht es keine Opulenz in der Gestaltung. Sattler setzt auf Einfachheit, Zweckmäßigkeit und Reduziertheit. Die Entwicklung der robotischen Assistenzsysteme soll sich optisch eher nicht an menschlichen oder tierischen Vorbildern orientieren, sondern zurückhaltend und funktional sein. "Das Ding soll sich nicht in den Vordergrund drängen. Es soll den Menschen helfen."