Kooperation neu gedacht: Wissensdialoge in Amazonien
Indigene und nicht-indigene Forschende gehen im Amazonasgebiet neue Wege: Ein anderer Blick auf das kulturelle und natürliche Erbe soll dessen Bedeutung für den Schutz der Territorien stärken.
Das Amazonasbecken bedeckt einen Großteil der nördlichen Hälfte des südamerikanischen Kontinents. 49 Millionen Menschen leben auf dem sieben Millionen Quadratkilometer großen Gebiet, das sich über neun Länder erstreckt. Gut zwei Millionen Menschen gehören indigenen Gruppen an. Über die rund 300 indigenen Sprachen und die beeindruckende kulturelle wie biologische Vielfalt der Region ist seit den Reisen von Alexander von Humboldt viel geforscht und auch berichtet worden. Vor allem seit der eklatant zunehmenden Bedrohung der dortigen Ökosysteme, etwa durch die Abholzung des Regenwaldes, den Bergbau oder den Bau von Staudämmen, dokumentieren Reportagen für Radio und Fernsehen, was dies für die Menschen, ihre natürliche Umwelt und ihre Traditionen bedeutet.
Konzepte überdenken
Seit den späten 1960er Jahren schon organisieren sich indigene Bevölkerungen im Amazonasgebiet, um sich direkt und ohne Vermittler bei den Nationalstaaten und der internationalen Gemeinschaft Gehör zu verschaffen. Angesichts der eskalierenden Bedrohungen ist es jetzt notwendig, neue Allianzen zu schaffen und neue Wege zu gehen, auch in der Wissenschaft. Dabei wollen Forschende Konzepte wie das "Erbe" dekonstruieren, um sie neu zu errichten: in Erweiterung der im Globalen Norden vorherrschenden einseitigen Bedeutung.
Auch die Altamerikanistin Carla Jaimes Betancourt forscht über das Natur- und Kulturerbe indigener Bevölkerungen. Die Fragwürdigkeit einer einseitigen Perspektive war ihr immer ein innerer Antrieb, alternative Ansätze zu entwickeln. Die in Deutschland lebende und in der Wissenschaftscommunity bestens vernetzte gebürtige Bolivianerin ist Professorin am Institut für Archäologie und Kulturanthropologie an der Universität Bonn und hat sich jetzt mit 20 Wissenschaftler:innen aus Bolivien, Brasilien und Deutschland zusammengetan:
Gemeinsam wollen sie ein von Grund auf anderes Forschungskonzept realisieren. In dem kollaborativen Projekt "Erbe und Territorialität: Vorstellungen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bei den Tacana, T'simane und Waiwai" sollen Indigene "nicht Be-Forschte sein, sondern als gleichberechtigte Mitglieder des Projekts und Mitforschende gesehen werden, die ihre eigenen Narrative und Expertisen einbringen", erläutert Jaimes Betancourt. "Das bedeutet: Alles, von der Formulierung der Forschungsfragen und der Methodik über die Durchführung bis hin zur Dokumentation und Verschriftlichung unserer Ergebnisse, geschieht in Teamarbeit." Sie und ihre Kolleg:innen verstehen das Projekt als "Wissensdialog".
Der Wunsch nach Schutz und Koexistenz
Dem Team gehören Forschende aus Archäologie, Ökologie, Sozial- und Kulturanthropologie und Soziologie an, die an Universitäten oder für Organisationen in Manaus, La Paz und Bonn tätig sind. Das Besondere: Acht der Teammitglieder sind indigene Waiwai im brasilianischen Guayana-Schild oder kommen aus den indigenen Völkern der Tacana und T'simane in der subandinen Wald- und Savannenregion von Llanos de Mojos in Bolivien. Die vier Männer und vier Frauen haben zum Teil einen akademischen Hintergrund, einige werden durch dieses Projekt in die Forschung einsteigen. Sie wurden von ihren Gemeinschaften aufgrund ihrer besonderen Kenntnisse etwa über die Natur, heilige und archäologische Stätten oder verschiedene Aspekte der Materialität ausgewählt und in das Projekt entsandt.
Dieses Projekt wird es uns ermöglichen, mit den Weißen zu koexistieren, ohne unsere Lebensweise aufzugeben – damit wir unser Territorium schützen können, in das sie eindringen, um den Wald zu verändern", sagt der Indigene Alexander Waiwai hoffnungsvoll. Er ist als Doktorand in Anthropologie am Erbe-Projekt beteiligt – und auch schon seit der Findungsphase mit aktiv, die von Workshops, vor allem aber vielen Videocalls und Abstimmungsprozessen geprägt war.
Und Projektmitarbeiter Hermindo Viez vom indigenen Volk der Tacana im bolivianischen Amazonasgebiet betont: "Für uns ist der Schutz unserer archäologischen Stätten von größtem Interesse. Sie müssen respektiert und stärker geschützt werden, beispielsweise bei den Planungen zum Bau von Staudämmen."
Horizontale Wissensdialoge und Dekolonisierung
Carla Jaimes Betancourt, seit 2022 Professorin für Cultural Heritage des Indigenen Amerika in Bonn, fasst den Rahmen des Vorhabens aus ihrer Sicht zusammen: "Internationale Konsortien beuten die Ressourcen in den Territorien indigener Bevölkerungen ohne Rücksicht auf das Wohlergehen der Bevölkerung aus, die in diesem Gebiet auf die Vielfalt der natürlichen Ressourcen angewiesen sind. Seit der Eroberung und Kolonialisierung durch die Europäer haben die indigenen Bevölkerungen darum gekämpft, ihre Gebiete zu verteidigen und ihre Selbstbestimmung und Rechte zu wahren. Die Archäologie beweist, dass die tiefe indigene Geschichte der Amazonasbewohner durch die Produktion kultureller und agrobiologischer Vielfalt gekennzeichnet ist. Die indigenen Bevölkerungen wussten über Tausende von Jahren mit diesen Ressourcen umzugehen und schufen Wald- und Stadtlandschaften. Ich bin überzeugt, dass wir viel über die Erhaltung des Kultur- und Naturerbes von ihnen lernen können."
Mit der Entwicklung einer explizit kollaborativen Forschung will ihr Team horizontale Wissensdialoge realisieren. Ein wichtiges Ziel dieses symmetrischen Austauschs: "Damit wollen wir Stimmen Gehör verschaffen, die in der Vergangenheit zum Schweigen gebracht wurden". Und sie fügt hinzu: "Mir ist wichtig, auch einen Beitrag zur Dekolonisierung des akademischen Wissens zu leisten: Indem wir die Trennung zwischen Forschenden und Erforschten hinterfragen, die ebenfalls ein Produkt der Kolonialisierung ist." Die Wissenschaftler:innen wollen zunächst die Komplexität des Begriffs "Erbe" ergründen – auf der Grundlage lokalen indigenen Wissens. Und sie wollen herausfinden, wie sich Konzepte für ein kollektives Lernen über das Natur- und Kulturerbe entwickeln lassen und wie dabei indigene Ansätze in das westliche Verständnis von Erbe und den Umgang damit einfließen können. Sie sind sich sicher, dass sich daraus neue wichtige Impulse für den Schutz von heiligen Stätten oder der Ökosysteme des Regenwaldes ergeben. Die Anerkennung der indigenen Wahrnehmung ihres Erbes soll die Position der betroffenen Gemeinschaften im Kampf für ihre Rechte und die Verteidigung ihres Territoriums stärken.
Als Antragstellende sind neben Carla Jaimes Betancourt und ihrer Bonner Professorenkollegin Karoline Noack die Ökologin Lilian Painter, PhD, von der Wildlife Conservation Society in Bolivien und der Archäologe und Anthropologe Carlos Machado Dias Junior, Professor an der Federal University of Amazonas im brasilianischen Manaus, am Projekt beteiligt.
"… Ihre eigene Anthroplogie"
Letzterer gründete vor einigen Jahren mit einem Kollegen die Initiative "Nucleus of Studies of the Indigenous Amazon" (NEAI). Beide begannen an der Universität in Manaus, gezielt indigene Studierende aufzunehmen, die sich für Postgraduiertenstudien interessierten. Auch Dias Junior fühlt, ähnlich wie die anderen Projektmitglieder, eine spezifische Verantwortung als Wissenschaftler, der man auf unterschiedlichen Ebenen gerecht werden könne. "Wir nennen unsere Idee hinter NEAI ‚Cross Anthropology‘. Eigentlich ist es eine sehr einfache, fast naive Idee", erläutert er. "Wenn Anthropologie die Lehre von der Beobachtung, Übersetzung und Beschreibung sozialer Welten ist, könnten wir uns doch darauf einigen, dass indigene Völker ihre eigene Anthropologie haben." Sein Ziel ist es deshalb, möglichst viele Indigene zu Studium und Promotion zu ermutigen – auch das Projekt zu "Erbe und Territorialität" könne dazu beitragen.
Der Brasilianer forscht seit den 90er-Jahren im Amazonasgebiet bei und mit den Waiwai, die mittlerweile so etwas wie Freunde für ihn geworden sind. Dias Junior ist froh, dass er mit Alexander Waiwai einen indigenen Forscher als Doktoranden betreuen kann und nennt als ganz persönlichen Grund, an dem Projekt teilzunehmen: "Ich möchte meinen Waiwai-Freunden besser verständlich machen, wie ein Anthropologe arbeitet und welche Bedeutung das hat."
Neue Perspektiven von "Erbe" erschließen
Das Aufeinandertreffen verschiedener Vorstellungen und Haltungen im Projekt empfindet auch die Archäologin Patricia Ayala-Rocabado als wichtig und hilfreich. Sie will ihren eigenen Blick auf die komplexen Begriffe "Erbe" und "Territorium" hinterfragen und schärfen – etwa in Bezug auf archäologische Stätten, Materialien oder ethnografische Sammlungen. "Ich betrachte und behandle Ausgrabungsorte immer mit Respekt, aber dennoch habe ich eine Distanz dazu, die meine indigenen Teamkolleg: innen natürlich nicht haben.
Für sie sind es heilige Orte, die im Leben ihrer Community große Bedeutung haben – und zwar nicht nur auf die Vergangenheit bezogen, sondern im Alltag, im Heute", sagt die chilenische Professorin. "Durch unsere kollaborativen Methoden der Koproduktion von Wissen zwischen indigenen und nichtindigenen Forschenden wollen wir das Thema Erbe in einer ganzheitlichen Perspektive betrachten, die die Ontologien der indigenen Völker widerspiegelt", fasst Projektleiterin Jaimes Betancourt die zentrale Idee nochmals zusammen. Sie und ihre Teamkolleg:innen setzen darauf, dass die neue transkulturelle und transdisziplinäre Sicht tatsächlich hilft, die Anpassungsfähigkeit und Widerstandsfähigkeit indigener Gruppen zu stärken. Denn die Bedrohung ihrer Umwelt und ihres kulturellen Erbes ist ganz konkret und aktueller denn je.