Grenzgänger
Azar Aliyev ist seit vielen Jahren in Deutschland verankert und hat in Halle eine internationale Graduiertenschule aufgebaut. Baku in seiner Heimat Aserbaidschan ist für den Rechtswissenschaftler der vertraute zweite Brückenkopf.
"Nur wer über Grenzen geht, kann Brücken bauen." So beschreibt Azar Aliyev die Maxime, nach der er lebt und arbeitet. Und tatsächlich hat der Rechtswissenschaftler bereits als Student das Umfeld gewechselt und immer wieder Ländergrenzen überschritten. Erst dies hat ihm seine aktuelle Position als Juniorprofessor an der Universität Halle-Wittenberg ermöglicht. Die Erfahrung einer länderübergreifenden wissenschaftlichen Karriere will er auch anderen jungen Forschenden ermöglichen. Der Experte für internationales Wirtschaftsrecht und Rechtsvergleichung hat deshalb mit Unterstützung der VolkswagenStiftung eine Graduiertenschule in der Saale-Stadt aufgebaut.
Die meisten, die in diesem Rahmen promovieren, kommen aus Aserbaidschan und Kasachstan. Das sei inhaltlich reizvoll, weil das deutsche Recht international rezipiert werde, sagt Aliyev. Zugleich biete das Stipendium, das beide Länder mitfinanzieren, eine klare Perspektive: mit den Partneruniversitäten ist vertraglich vereinbart, dass sie den Promovierten eine feste Stelle bieten. "Sie wissen also genau, worauf sie hinarbeiten." Auch Doktorand:innen aus der Ukraine, Russland und Brasilien seien an der Schule vertreten, ihr Aufeinandertreffen und der wissenschaftliche Austausch sei in Zeiten des Ukraine-Krieges etwas Besonderes.
In mehreren Sprachen zuhause
Dass die jungen Leute nach Deutschland kommen, ohne die Sprache zu können, empfindet der Aserbaidschaner nicht als problematisch. "Wer etwas Elan besitzt, lernt innerhalb von maximal neun Monaten sehr gut Deutsch." Der 43 Jahre alte Wirtschaftsjurist hat selbst die Erfahrung gemacht, in unterschiedlichen Sprachen zu forschen und zu lehren. "Ich bin zweisprachig aufgewachsen – mit Aserbaidschanisch im regulären Leben und Russisch als Bildungssprache – und hatte kein Problem damit, während meiner Masterarbeit nach Moskau zu wechseln."
Wenige Jahre nachdem Aserbaidschan 1991 infolge des Zerfalls der Sowjetunion unabhängig wurde, hatte Aliyev begonnen, Jura zu studieren. "Eine Reihe von Zufällen und sehr prägende Persönlichkeiten" hätten seinen weiteren Weg beeinflusst: Als der Betreuer seiner Masterarbeit ihn zur Literaturrecherche und zum weiteren Studium nach Moskau schickte, sei eine Art Kindheitstraum in Erfüllung gegangen – hatte er doch als Neunjähriger häufiger mit seinen Eltern die Stadt mit der prachtvollen Lomonossow-Universität besucht. "Wissenschaftlich und persönlich war das eine sehr spannende Zeit. Ich habe in dieser pulsierenden Metropole nicht viel geschlafen", so der Wissenschaftler.
Aserbaidschan hingegen sei bis 1994 vom Bergkarabach-Konflikt in Atem gehalten worden und hinkte auch danach trotz westlicher Orientierung wirtschaftlich hinterher. In Moskau kam Aliyev das erste Mal mit Deutschland in Berührung. "Das deutsche und das russische Recht sind historisch eng miteinander verbunden. Am Lehrstuhl gab es viele Rechtswissenschaftler, die Deutsch sprachen." Er begann am Goethe-Institut Deutsch zu lernen und arbeitete in einer Wirtschaftskanzlei. Ihm sei aufgefallen, dass nach mehr als 70 Jahren sowjetischer Herrschaft in den früher sozialistischen Ländern die wissenschaftlichen Grundlagen für Zivil- und Wirtschaftsrecht fehlten, so der Jurist. "Das war für mich der Trigger, nach Deutschland zu ziehen und in Erlangen ein Aufbaustudium zu machen." Mit dieser Qualifikation habe er eigentlich später nach Moskau zurückgehen wollen.
Vom Deutschkurs zur Juniorprofessur
Der Wechsel nach Deutschland war eine große Veränderung: "Stellen Sie sich vor, Sie kommen von Moskau nach Erlangen. Ich saß da sechs Monate, um die Sprache zu lernen", erinnert Aliyev sich. Das sei nicht nur schwierig, sondern auch interessant gewesen. "Im Sprachkurs waren Menschen aus aller Welt, aus Kamerun, Kroatien und der Ukraine. Moskau war damals dagegen noch sehr postsowjetisch und wenig international."
Seine Frau blieb mit dem ersten Kind noch in Baku: "Es war nie geplant, dass ich länger nach Deutschland gehe und hier Karriere in der Wissenschaft mache." Nach dem Deutschkurs folgte eins auf das andere: das Studium in Heidelberg beenden, Promotion und wissenschaftliche Mitarbeit an der Uni Kiel, später dann die Juniorprofessur in Halle. Bis die Entscheidung fiel, dass seine Frau mit den beiden Kindern nachkommt, sei er gependelt: "So war das halt, ich habe mir keine großen Fragen gestellt." Eigentlich sei auch nicht geplant gewesen, nach der Promotion in Deutschland zu bleiben. "Aber ich bin hier hängengeblieben – seit fast 20 Jahren", sagt Aliyev schmunzelnd.
Die persönliche Erfahrung, dass zwischen den westlichen und den östlichen Staaten große, historisch gewachsene Lücken klaffen, prägt ihn bis heute. "Es gibt auf fachlicher und gesellschaftlicher Ebene viele Missverständnisse und Klischees – und zwar auf beiden Seiten", so der Wissenschaftler. "Irgendwann habe ich angefangen, in Baku zu lehren. Dort hat man noch einen ganz anderen Einfluss auf die Studierenden." Viele haben nach seinen Vorlesungen angefangen, Deutsch zu lernen und zwei von ihnen promovieren jetzt an der Graduiertenschule. "Ich merke, dass ich viel einbringen kann."
Bereichernde Vielfalt
Umgekehrt würden die deutschen Studierenden, mit denen er gelegentlich nach Baku reist, über die Offenheit und Wissbegierde ihrer aserbaidschanischen Kolleg:innen staunen. Auch die religiöse Toleranz zwischen Juden und Muslimen in Aserbaidschan sei für sie eine neue Erfahrung. "Ich versuche, den Menschen auch aus persönlicher Perspektive zu zeigen, dass die Wirklichkeit viel bunter und interessanter ist. Auf meiner Freundesliste sind ein Jude, ein Tartare, zwei Russen und so weiter. Und ich frage nicht, warum", sagt Aliyev. "Diese Erlebnisse sind für mich sehr bereichernd."
Auch im akademischen Bereich gebe es zwischen west- und osteuropäischen Ländern noch bemerkenswerte Unterschiede. "Zwar sind die Hochschulen in Aserbaidschan teilweise besser ausgestattet als in Deutschland. Die ADA-Universität zum Beispiel hat einen tollen Campus mit einer wunderbaren Bibliothek. Die Gehälter bewegen sich – gemessen an den Lebenshaltungskosten – in einer ähnlichen Höhe wie hier", lobt er. Doch die akademische Infrastruktur, die Möglichkeit, Tagungen zu veranstalten, mit anderen Wissenschaftler:innen zu arbeiten und sich auszutauschen, sei begrenzt: "Wer dort arbeitet, hat eine hohe Lehrbelastung und kaum Unterstützung bei der wissenschaftlichen Tätigkeit, das ist manchmal eine Katastrophe."
Ein großes Problem sieht der engagierte Jurist darin, dass Nachwuchswissenschaftler:innen zwar mit Hilfe von Promotionsstipendien im Ausland gefördert werden, "die Frage aber, was sie danach im Heimatland machen, wurde nie zu Ende gedacht." An der Graduiertenschule in Halle soll das besser laufen. Gemeinsam mit den Partner-Universitäten in Aserbaidschan und Kasachstan plant er den Bedarf an Lehrkräften dort und sucht die Doktorand:innen aus. Innerhalb von drei bis fünf Jahren werden diese in Halle gezielt in Grundlagenfächern wie Zivil- und Verwaltungsrecht für die weitere akademische Karriere in ihrer Heimat ausgebildet: „Da haben wir noch viel Nachholbedarf." Die Rück-Integration kann gelingen: Die erste im IT-Recht promovierte Juristin bekam an der ADA-Universität in Baku gleich eine Stelle als Assistant Professor. "Sie ist dort sehr beliebt, ihre Kurse sind sofort ausgebucht." Das allein reicht Aliyev jedoch nicht. "Wie könnten wir sie weiter fördern? Sie müsste nicht nur Assistenzstellen, sondern auch die Möglichkeit bekommen, für einige Zeit nach Deutschland zu reisen, um hier zu forschen und zu lehren – ohne erst komplizierte Anträge zu stellen."
Das Heimatland bleibt wichtig
Grenzüberschreitendes Arbeiten und Denken sollte stärker institutionalisiert werden, wünscht sich Aliyev. Doktorand:innen würden sich häufig während der Jahre im Ausland von ihrem Heimatland entfremden. "Sie kehren dann im Alter von Ende 20, Anfang 30 ohne Berufserfahrung zurück, sind nicht vernetzt und treffen auf ganz andere Umstände", erläutert er. "Das ist ein Riesenstress, den ich schon bei vielen erlebt habe." Deshalb schickt die Graduiertenschule ihre Fellows für kurze Lehraufenthalte nach Hause.
Wie es für ihn selbst weitergeht, ist noch offen. Aliyevs Juniorprofessur endet bald, noch arbeitet er an seiner Habilitation zum Thema "Staat im Handelsschiedsverfahren" – eine angesichts der angespannten internationalen Lage hochaktuelle Materie. Aliyev macht sich wegen seiner Qualifikationen keine Sorgen: "Ich würde gerne in der Wissenschaft bleiben, wenn das klappt. Und wenn nicht – ich finde bestimmt was." Das Pendeln zwischen Halle, das für ihn überschaubar, gemütlich und die Stadt der Wissenschaft ist, und Baku, wo seine Großfamilie und die alten Freunde leben, würde er nur ungern aufgeben. "Ich könnte mir vorstellen, das umzudrehen und mehr in Baku zu sein als in Halle, aber nicht, an einem einzigen Ort zu bleiben", sagt Aliyev lachend. "Ich passe in keine Schublade. Allein die Tatsache, dass ich ohne deutsches Staatsexamen an einer juristischen Fakultät arbeite, ist eher untypisch." Der Rechtsexperte kann sich auch ganz andere, internationale Wege vorstellen: "Ein Grenzgänger bleibe ich immer."