Europasaurus als Graphic Novel: Wissenschaft mal anders
Ein stiftungsgefördertes Saurier-Projekt findet seinen Abschluss in einem ungewöhnlichen Vermittlungsansatz. Eine Graphic Novel soll wissenschaftlich korrekt die Fantasie bei der Vorstellung eines 154 Millionen Jahre alten Ökosystems anregen.
Jana, 13, aus Düsseldorf stößt beim Surfen im Netz auf eine Website mit Comic-Episoden aus aller Welt. Die Illustrationen von Dinosauriern faszinieren sie sofort: Die Zeichnungen erzählen von kleingewachsenen Riesentieren namens "Europasaurus" und wie sie vor etwa 154 Millionen Jahren auf einer Insel in der heutigen Harzregion lebten. Dass es hier nicht um eine illustrierte Fantasygeschichte geht, sondern um die nach aktuellem wissenschaftlichen Stand korrekte Rekonstruktion eines urzeitlichen Ökosystems, wird Jana während ihrer Lektüre erst nach und nach klar.
Die neugierige Jugendliche folgt dem Comic-Strip bis zu einem Link, der sie zu einem 180-seitigen Buch führt: Einer Graphic Novel, die all das über die Europasaurier und ihre Umwelt zusammenfasst, was Forscherinnen und Forscher bislang herausgefunden haben. Aus dem Buch erfährt Jana auch Interessantes über die Fundstelle der Dinosaurierknochen und über die Museen, in denen sie zu sehen sind. Nun will sie es aber ganz genau wissen – und schlägt ihren Eltern einen Ausflug nach Niedersachsen vor.
Vermittlung neu gedacht
Wenn dieses Szenario Realität wird, hat Dr. Oliver Wings sein Ziel erreicht, neue Zugänge zur Vermittlung wissenschaftlicher Inhalte zu ermöglichen. Der Geologe leitete in den Jahren 2012 bis 2016 das paläontologische Europasaurus-Projekt am Niedersächsischen Landesmuseum Hannover, das die VolkswagenStiftung im Rahmen der Initiative "Forschung in Museen" gefördert hat. Über die derzeit entstehende Graphic Novel möchte Wings mit seinen Forschungsergebnissen ganz neue Zielgruppen erreichen und sie neugierig machen auf das, was Wissenschaft und Museen zu bieten haben. Denn für Oliver Wings ist neben der paläontologischen Forschung auch die Weiterentwicklung ihrer Vermittlung von großer Bedeutung: "Wir forschenden Museumleute haben ja einen expliziten Bildungsauftrag – nur bleibt neben dem Alltagsgeschäft leider kaum Zeit, sich damit auseinanderzusetzen."
Der Geologe sieht eine breite, neuartige Vermittlung als naheliegend und besonders wichtig bei der Erforschung des Europasaurus an, da nicht nur Fachkreise das Projekt als bemerkenswert einschätzen. Denn schon kurz nachdem 1998 im Langenberg-Steinbruch zwischen Goslar und Bad Harzburg erst ein ungewöhnlicher Zahn und danach entsprechende Knochen auftauchten, stand fest, dass hiermit erstmals in Norddeutschland Dinosaurier aus der Gruppe der Sauropoden, also der gigantischen pflanzenfressenden Saurier mit langem Hals, nachgewiesen werden konnte. Sie lebten in dieser Harzregion im Zeitalter des Jura – vor 201-145 Mio. Jahren – und bekamen von ihren Entdeckern den Namen Europasaurus holgeri verliehen.
Die Verzwergung der Riesen
Der Europasaurus holgeri vom Harz erwies sich im weiteren Verlauf der Beforschung sogar als neue Dinosauriergattung. "Die exzellent dreidimensional erhaltenen Knochen gehören zu den bedeutendsten paläontologischen Funden weltweit", sagt Geologe Wings. Etwa 3.000 davon wurden in den vergangenen 20 Jahren präpariert. Sie gehören zu mindestens 21 Tieren. Bedeutsam ist der Europasaurus vor allem deswegen, weil es sich bei ihm um einen verzwergten Riesendinosaurier handelt. Er hatte eine Körperlänge von nur sechs bis acht Metern und eine Höhe von zwei bis drei Metern. Viele seiner zeitgenössischen Verwandten waren hingegen bis zu 13 Meter hoch und über 20 Meter lang. Die Erklärung: "Vermutlich musste Europasaurus mit weniger Nahrung auskommen, weil er auf einer Insel lebte, und ist im Laufe der Evolution geschrumpft. Zudem erlaubte ihm das gleichzeitige Fehlen von Raubdinosauriern das Überleben", erläutert Oliver Wings.
Dass anhand der Fundstücke aus dem Steinbruch auch die ersten jurassischen Säugetiere Deutschlands nachgewiesen werden konnten, die offenbar gleichzeitig auf derselben Insel wie der Europasaurus gelebt haben, begeistert den Forscher. Diese Begeisterung und vor allem diese Zusammenhänge möchte Wings mit seiner Graphic Novel der Öffentlichkeit verständlich machen.
Szenen machen Fakten lebendig
"Museumsbesucher sind meist absolut fasziniert von solchen Funden", sagt Wings. "Es sprengt jedoch jede Vorstellungskraft, was 150 Millionen Jahre bedeuten, wie die Welt damals aussah." Für die Vermittlung muss also anschaulich visualisiert werden, dass an der Stelle des Fundortes und seiner Umgebung früher eine Insel in einem weiten Flachmeer lag, die ein besonderes Ökosystem darstellte. Dazu sind nicht nur die wissenschaftlichen Ergebnisse wichtig, sondern auch professionelle, ästhetisch ansprechende Formen der Vermittlung.
Die Graphic Novel über den Europasaurus und sein Ökosystem, die Wings gemeinsam mit dem Paläo-Künstler Joschua Knüppe aus Münster und dem Mediendesigner Henning Ahlers aus Hannover entwickelt, möchte daher nicht nur Bilder ausgestorbener Tiere zeigen, sondern Geschichten erzählen. "Wenn ich mir als Paläontologe Knochenfunde ansehe, habe ich keine einzelnen Schnappschüsse vor meinem geistigen Auge, sondern lebendige Szenen", sagt Wings. Wie haben sich die Tiere bewegt? Wie sah ihre Umwelt aus? Wie haben sie interagiert? Diese Aspekte möchte er auch Laien vermitteln. Dabei ist der wissenschaftliche Anspruch an die Illustrationen und die "Szenografie" hoch. Gut, wenn man wie Knüppe das Talent hat, wissenschaftliche Fakten künstlerisch zu interpretieren und adäquat umzusetzen.
Die fertigen Kapitel der Graphic Novel werden von internationalen Fachwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern auf ihre Plausibilität geprüft. Zudem werden in einem Sachteil Erläuterungen zu den Forschungsergebnissen gegeben. Die urzeitlichen Protagonisten der einzelnen Kapitel werden darin wissenschaftlich vorgestellt: Was hat man von ihnen gefunden, was ist über sie gesichert bekannt? Wo kommen Interpretation und Fantasie ins Spiel?
"Von manchen Tieren haben wir nur Zähne gefunden", erklärt Wings. Das möchte er nicht verschweigen. Auch andere, etwa geologische Hintergründe wie zur Plattentektonik und der Entstehung heutiger Gesteinsschichten beleuchtet die Publikation – und es gibt eine kurze Einführung in wissenschaftliche Methoden. "Natürlich nimmt sich eine Graphic Novel aber auch Freiheiten, es ist schließlich kein reines Fachbuch", bekennt Wings. So werden die einzelnen Kapitel, die jeweils andere Tiere aus dem erforschten Ökosystem darstellen, durch Besonderheiten wie einen Sturm oder Blitzeinschlag visuell miteinander verknüpft. Im Erzählteil wird zudem auf Text weitgehend verzichtet: "Wir wollen die Bilder wirken lassen."
Neue Medien zur Verbreitung
Das entstehende Buch ist großformatig und hochwertig gedruckt geplant; der Verkaufspreis soll unter 20 Euro bleiben. "Es ist in erster Linie ja kein kommerzielles Produkt, mit dem wir Geld verdienen müssen", erläutert Wings. Vielmehr solle es sich als subventioniertes Vermittlungsprojekt möglichst weit verbreiten und Interesse wecken für spannende Wissenschaft. Als Partner für Druck, Marketing und Auslieferung hat Wings den Münchner Wissenschaftsverlag Dr. Friedrich Pfeil an Bord. "Dort wird das ungewöhnliche Projekt sehr ernst genommen", freut sich der Forscher. Ihm ist es wichtig, dass Teile der Graphic Novel digital kostenlos verbreitet werden, als Web-Comic, in den sozialen Medien und als App, auf Deutsch und Englisch. Verlinkungen sollen auf das Buch als Kernprodukt und auf die Museumspräsentationen hinweisen. Zudem soll eine Ausstellung Grafiken aus dem Buch großformatig als Durchlicht-Panels zeigen. Die Zielgruppe bleibt dabei jeweils ähnlich: Kinder ab zehn Jahren, vor allem aber Jugendliche und junge Erwachsene, die mit bildlicher Erzählweise und mobiler Interaktion vertraut sind.
"Erst einmal geht es bei der digitalen Verbreitung darum, zu zeigen, dass das Produkt Spaß macht – und dann kommt die Neugierde auf mehr", ist Wings überzeugt. Trotzdem kann eine Graphic Novel, ob gedruckt oder digital, das Sehen und Erleben eines Originalfunds nicht ersetzen. "Alleine aus diesem Grund werden Museen immer ihre Bedeutung haben", so der Geologe.
Die Graphic Novel als Wissenschaftsvermittlung und Marketinginstrument sei ein Pilotprojekt, eine These: "Wir wollen Diskurse anregen, dabei macht man sich immer auch angreifbar." Manche Kollegen bezweifelten, ob sich der hohe Zeitaufwand lohne. Zudem wage sich eine künstlerische Darstellung an bestimmten Punkten immer auch über die exakte Wissenschaft hinaus. "Mit jeder neuen Forschungsarbeit können Details bereits überholt sein – aber aktuell sind wir so korrekt wie möglich", betont Wings.
Dinosaurier als Botschafter
Der Wissenschaftler ist grundsätzlich der Meinung, dass Fächer wie die Paläontologie den Weg in die Öffentlichkeit suchen und anschaulich machen müssen, was Forschung bedeutet und welchen Wert sie für uns heute hat. "Viele Paläontologie-Professuren sind in den vergangenen Jahrzehnten verschwunden, weil die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sich nicht um Lobbyarbeit gekümmert haben", bedauert Wings. Für ihn geht es um Essentielles, "denn wir können aufgrund des Studiums der Vergangenheit unseres Planeten Prognosen entwickeln, wie es in der Zukunft weitergehen wird."
Die Berücksichtigung langfristiger Perspektiven auf die komplexen Prozesse seien unerlässlich: Wie reagiert Leben auf Krisen? Wie reagieren Ökosysteme, wann kollabieren sie? "Wir überschätzen uns als Menschen. Es bringt wenig, nur zu schauen, was in letzter Zeit passiert ist", gibt Wings zu bedenken. Auch deshalb sei es wichtig, immer wieder die Neugier und die Fantasie der Menschen zu wecken. "Ohne die populären Dinosaurier würden wir und unsere Forschung noch viel weniger wahrgenommen." Auch deshalb ist der Europasaurus für Wings ein hervorragender Botschafter für die Bedeutung von Wissenschaft und der Paläontologie im Besonderen.