Ein geschützter Raum für kreative und überraschende Gedanken
Was macht ein Leben mit Wissenschaft so besonders, und welche Rahmenbedingungen braucht es, damit der universitäre Hochleistungsbetrieb Chancen und Erfüllung bietet? Ein Gespräch zwischen Enrico Schleiff, Präsident der Goethe-Universität Frankfurt, und dem Generalsekretär der VolkswagenStiftung, Georg Schütte – moderiert von Christine Prußky.
Herr Schütte, Sie starteten Ihre Karriere als Wissenschaftsmanager Anfang der 90er-Jahre direkt nach der Promotion. Muss man lange kratzen, um den Forscher in Ihnen zum Vorschein zu bringen?
Schütte: Ja und nein. Meine Tätigkeit als Forscher liegt weit zurück. Andererseits kann ich mich gut an die Zeit erinnern. Ich weiß, was es heißt, als junger Forscher in der Wissenschaft zu arbeiten und gleichzeitig eine Familie zu gründen. Ich vereinte beides, ohne den langen Weg zur Professur gehen zu müssen. Meine Affinität zur Wissenschaft lebe ich seit 30 Jahren, indem ich mich in unterschiedlichen Positionen dafür einsetze, dass an Hochschulen neues Wissen entstehen kann.
Schleiff: Wissenschaftsmanagement und Forschung sind meines Erachtens kein Widerspruch. Sich Gedanken darüber zu machen, was Hochschulen ausmacht und wie sie sich entwickeln, ist auch eine Form von Wissenschaft. Und das ganz praktisch: Zu lernen, wie sich das "System" Hochschule weiterentwickeln lässt, kommt einem Experiment durchaus nahe. Ein wesentlicher Unterschied ist jedoch, dass wir die Rahmenbedingungen nicht umfänglich kontrollieren können und oftmals auch nicht wollen, sondern eher impulsgebend sind, um das "System" produktiv zu irritieren.
Testen wir, ob die Vorstellung von einem erfüllten Leben in der Wissenschaft eine Generationenfrage ist. Sie, Herr Schütte, sind 1962 im Münsterland geboren, Herr Schleiff kam 1971 in Luckenwalde zur Welt und wuchs in der DDR auf.
Schütte: Ein erfülltes Leben in der Wissenschaft ist ein kreatives Leben, in dem neues Wissen entsteht.
Schleiff: Darin besteht schon mal kein Unterschied zwischen den Generationen. Auch für mich zeichnet sich Wissenschaft dadurch aus, dass es einen geschützten Raum für kreative und überraschende Gedanken gibt. Hinzu kommt, dass dieses freie Spiel der Ideen im Diskurs mit Kolleg:innen geschieht. Dass wir dabei Forschende in frühen Karrierephasen begleiten und ihnen zugleich den Freiraum geben können, eigene Ideen zu entwickeln und zu testen, macht die Arbeit in der Wissenschaft so einzigartig und bereichernd.
Für die Generation "#IchbinHanna" gehört eine ausgewogene Work-Life-Balance mit dazu.
Schleiff:"#IchbinHanna" hat eine wichtige Diskussion angestoßen, unter anderem auch zu den wissenschaftlichen Rahmenbedingungen, um die verschiedenen Lebensbereiche in ein – es mag old-fashioned klingen – "sinnerfülltes" Ganzes zu integrieren. Das heißt, um eine Analogie zu gebrauchen: Leistung berechnet man in der Physik, indem man Arbeit durch Zeit dividiert – nicht multipliziert. Wir brauchen also einerseits die Freiheit und Flexibilität, um den unterschiedlichen Persönlichkeiten und Neigungen Raum zu geben. Andererseits darf Freiheit und Flexibilität nicht zu Entgrenzung führen. Kurzum: Verlässlichkeit und Berechenbarkeit sowie kreativer Freiraum und Flexibilität dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden – und das ist eine herausfordernde Aufgabe.
Schütte: Die Vorstellungen von Arbeitsorganisation gehen nicht nur an Unis auseinander. Den Generationendisput gibt es auch im Handwerk und der Wirtschaft. Die Zielvorstellungen der Altvorderen einfach zu übernehmen, ist in der Wissenschaft aber besonders schädlich. Ideen lassen sich nicht mit der Stechuhr erfassen. So wie ich die "Hanna"-Bewegung verstehe, ist ihr das aber auch bewusst.
Dann wäre ein Problem gelöst.
Schütte: Nicht ganz: Wir müssen uns sehr wohl Gedanken darüber machen, wie Lebenszeit außerhalb und innerhalb der wissenschaftlichen Einrichtungen in ein gutes Verhältnis gebracht werden kann. Auch müssen wir über die Verteilung von Chancen auf ein erfülltes Leben in der Wissenschaft sprechen.
Schleiff: Wie gesagt: Die unterschiedlichen individuellen Bedürfnisse mit den institutionellen Bedarfen in Einklang zu bringen, ist herausfordernd und mitunter komplex. Für tragfähige Lösungen braucht es vielschichtige Aushandlungsprozesse, die zu einem gemeinsam getragenen Ergebnis führen. Diese Ergebnisse müssen jedoch offen für Diskussion und Veränderung bleiben, auch weil sich Bedürfnisse und Bedarfe ändern. Wichtig ist dabei, dass Wissenschaft immer beides ist – Passion und Profession.
Wären Sie, Herr Schleiff, in der Wissenschaft geblieben, wenn Sie die VolkswagenStiftung zum Karrierestart nicht in das Nachwuchsgruppen-Förderprogramm aufgenommen hätte?
Schleiff: Was-wäre-wenn-Fragen sind schwer zu beantworten. Aber ich hatte mich damals schon in der Industrie beworben. Ich war Vater geworden und musste längerfristig planen. Die Förderung der VolkswagenStiftung kam wie gerufen.
Herr Schütte, jetzt geht Ihnen aber das Herz auf, oder?
Schütte: Und wie! Die Stiftung bewies wahren Weitblick, als sie bereits 1996 das Programm auflegte, um jüngeren Menschen mehr Eigenständigkeit in der Forschung zu geben. Die Idee wurde später in der Juniorprofessur und den Tenure Track-Professuren aufgenommen. Planbare Karrierewege zur Professur zu bieten, ist heute Standard.
Das klingt als hätten es Early Career Researcher im deutschen Wissenschaftssystem ganz gut.
Schleiff: Tatsächlich hat sich die Universität in den vergangenen 30 Jahren positiv verändert. Die Betreuung von Promovierenden hat sich verbessert, Graduiertenschulen wurden geschaffen. Und es gibt eine Vielzahl von Möglichkeiten, neben Forschung und Lehre in der Wissenschaft zu arbeiten. Wir müssen aber kontinuierlich weiter an der Verbesserung der Rahmenbedingungen arbeiten.
Die meisten Stellen in der Wissenschaft sind befristet.
Schleiff: Das liegt vor allem an einer Unwucht in der Finanzierung. Weil die Grundfinanzierung im Vergleich zu den Drittmitteln nur leicht stieg, sind Dauerstellen selten. Wegen des Zuwachses an Studierenden auf insgesamt knapp drei Millionen ist der Aufwand für die Lehre gestiegen. Korrigierte man früher 20 Hausarbeiten, sind es heute 40 und meistens sogar noch mehr. Hier müssen wir nachsteuern und entweder mehr Stellen schaffen oder uns fragen, welchen Akademisierungsgrad wir unter anderem in Zeiten des Fachkräftemangels als Gesellschaft wollen.
Schütte: Gute Frage! Wie viele Leute müssen wirklich an die Hochschule? Parallel dazu sollten wir aber auch die hierarchischen Strukturen an Universitäten hinterfragen. Eine dritte Stellschraube ist die Laufbahn-Beratung. Sie kommt bisher viel zu kurz.
An der Goethe-Universität gibt es eine Graduiertenakademie für Early Career Researcher. Um sie aufzubauen, dauerte es fast ein Jahrzehnt. Was war los?
Schleiff: Ich kann nachvollziehen, dass dieser Eindruck von außen aufkommen kann. Aber GRADE, unsere Goethe Research Academy for Early Career Researchers, fußte auch schon damals auf bestehenden Strukturen, und die Weiterentwicklung ist ein kontinuierlicher Prozess. So haben wir in diesem Jahr und im letzten Jahr unser Stellenkonzept unterhalb der Professur auf den Prüfstand gestellt, um mehr Forschenden planbare Karrierewege zu bieten. Wir fördern Eigenständigkeit, Internationalität und Transdisziplinarität. An der Stelle wünschen wir uns mehr Rückenwind aus der Politik und von den Wissenschaftsförderorganisationen, um hier noch besser werden zu können.
Nur noch 16 Prozent der Promovierenden in Deutschland wollen später an einer Hochschule arbeiten, 2019 waren es 22 Prozent. Die OECD warnt vor einem Mangel an Forscher:innen. Teilen Sie die Einschätzung?
Schütte: Mit Prognosen bin ich vorsichtig. Allerdings sollten wir genau beobachten, wohin hochqualifizierte Talente gehen. Wie attraktiv ist der deutsche universitäre Arbeitsmarkt beispielsweise in den naturwissenschaftlichen Fächern? Wenn man vergleicht, was Doktorand:innen und Postdocs in Deutschland und an der ETH Zürich verdienen, sehen wir die internationale Konkurrenz.
Schleiff: Der Frage würde ich mich noch einmal anders nähern: Dass immer wieder neue Fertigkeiten und Kompetenzen von Wissenschaftler:innen gefordert werden, macht das Berufsfeld nicht unbedingt attraktiver. Wenn wir einerseits davon ausgehen, dass ein erfülltes Leben in der Wissenschaft mit Kreativität und Freiräumen verknüpft ist, andererseits aber den Anforderungskatalog betrachten, wird der Widerspruch offensichtlich. Innovative Lehre, Publikationen, Drittmittel, Patente, Wissenschaftskommunikation – wenn mir als junger Mensch diese Erwartungen in der geballten Wucht entgegengeschlagen wären, wäre meine Faszination für die Wissenschaft womöglich abgekühlt.
Schütte: Überforderungssymptome gibt es immer wieder. Ihnen ist schwer beizukommen. Aber wir müssen Klarheit darüber schaffen, was Universitäten leisten können und was nicht. Artikuliert werden muss vor allem, dass Hochschulen nicht alles gleichzeitig leisten können. Forschungs- und Leistungsprofile müssen stärker konturiert werden.
Schleiff: Leider spiegelt sich das allgemeine Bekenntnis zur Ausdifferenzierung nicht in der Finanzierungs- und Förderpolitik wider. In den letzten 15 Jahren stelle ich eher eine Angleichung der Profile fest. Statt Stärken zu stärken, belegt die Politik alle Hochschulen mit dem gleichen Aufgabenkanon.
Bekommen Unis noch die Besten?
Schütte: Die Bestenauswahl ist ein großes Thema auch für uns in der Stiftung. Aktuell fördern wir Forschungsprojekte zu Bewertungssystemen in der Wissenschaft. Was ist gute Wissenschaft? Welche Wissenschaft brauchen wir? In drei bis vier Jahren rechnen wir mit Erkenntnissen.
Schleiff: Die Ergebnisse hätte ich am liebsten schon heute. Ob wir für unsere Universitäten die Besten bekommen, weiß ich nicht. Wir gewinnen aber sicher jetzt schon herausragende Leute. Sie haben übrigens alle dieses gewisse Leuchten in den Augen, wenn sie von ihrer Arbeit sprechen.
Herr Schleiff, Sie sind Puzzle-Spieler. Hilft Ihnen diese Gabe im Alltag?
Schleiff: Wer mich kennt, weiß, dass ich ein dynamisches Umfeld schätze und ich Neues schnell umsetzen und nach vorne bringen möchte – man sagt mir nach, dass ich ungeduldig bin (lacht). Das Puzzlespiel bringt mich in meiner Freizeit zur Ruhe. Es lehrt, dass manches einfach Zeit braucht. Sie müssen alle Teile geduldig betrachten und sich bei jedem einzelnen Stück fragen, wo es passen könnte. Zugleich ist dieses Vorgehen aber auch ein zentraler Aspekt meiner Arbeit. Ich frage mich ständig, wie sich dieses Teil mit jenem Teil zusammenfügen lässt und wie daraus ein großes Ganzes entstehen kann, das am Ende mehr als die Summe seiner Teile ist.
Welche heimliche Gabe hilft Ihnen im Beruf, Herr Schütte?
Schütte: Ohne überheblich klingen zu wollen: Empathie. Ich freue mich, Menschen zu treffen und zu erfahren, wofür sie brennen, und frage dann: Was können wir als Stiftung tun, um dieses Feuer zu bewahren?