Die Verantwortung nach der Rana Plaza Katastrophe
Seit dem Einsturz der Textilfabrik Rana Plaza hat sich die Arbeitssicherheit in Bangladesch verbessert – so das Ergebnis einer Studie. Doch was bleibt, wenn die Politik nicht dranbleibt?
"Wir wissen jetzt zwar mehr über Sicherheitsfragen, aber um die Behandlung der Arbeiter, vor allem von uns Frauen, steht es weiter schlecht!", sagt eine Textilarbeiterin sechs Jahre nach dem Unglück von Rana Plaza. Am 24. April 2013 war nahe der Hauptstadt Dhaka in Bangladesch die achtstöckige Fabrik eingestürzt und begrub 1134 Menschen unter sich. Ein internationaler und interdisziplinärer Forschungsverbund untersuchte – gefördert von der VolkswagenStiftung – drei Jahre lang, wie sich die Arbeitssicherheit und -standards in der Bekleidungsbranche des Landes seitdem verändert haben und welche Regulierungsansätze Politik, Gesellschaft und Wirtschaft verfolgen.
Unter der Leitung von Elke Schüßler, Professorin für Betriebswirtschaftslehre an der Universität Linz (zuvor FU Berlin), nahmen fünf Wissenschaftlerteams die lange Lieferkette unter die Lupe - angefangen bei den Arbeiterinnen und Arbeitern und den Managern der Textilfabriken in Bangladesch bis hin zu den Markenkonzernen und Handelsunternehmen in Schweden, Großbritannien, Deutschland und Australien. Sie analysierten außerdem das jeweilige gesellschaftliche Umfeld und führten Gespräche mit Nicht-Regierungs-Organisationen, Gewerkschaften, Politikern und Investoren: "Dadurch konnten wir uns ein umfassendes Bild davon machen, wie die politisch-gesellschaftliche Ebene der fünf Länder – Bangladesch eingeschlossen – auf Rana Plaza reagiert hat", sagt Elke Schüßler.
"Ein gewisses Umdenken" erkennbar
Das wesentliche Ergebnis des Projekts "Garment Supply Chain Government" sei, dass Rana Plaza bei den Unternehmen "ein gewisses Umdenken" bewirkt hat: "Sie haben verstanden, dass sie stärker kontrollieren müssen, bei wem sie einkaufen", berichtet die Projektleiterin. Die Wissenschaftler befragten die Führungskräfte von 79 Marken- und Handelsunternehmen, die für den Einkauf oder für "Corporate Responsibility" zuständig sind. Viele Unternehmen, so zeigte sich, suchen seit dem Unglück nach Möglichkeiten, jenseits von Auditierungen für größere Transparenz, stabilere Lieferantenbeziehungen und höhere Arbeitsstandards in den Fabriken zu sorgen. Hierbei gibt es jedoch deutliche Unterschiede.
Stärker als in Deutschland und Schweden bemühen sich beispielsweise die Konzerne in Großbritannien und Australien darum, Daten über ihre Zulieferer und deren Produktionsbedingungen zu veröffentlichen. In allen Ländern sind es nur einige wenige Unternehmen, die versuchen, durch neue kollektive Lösungen und enge Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften die Abwärtsspirale hin zu immer schlechteren Arbeitsstandards zu stoppen – und das bislang mit mäßigem Erfolg. Neben moralischen Appellen gebe es derzeit wenig Ansätze, hier für mehr Nachhaltigkeit zu sorgen, stellen die Forscher fest.
Neue Sicherheitskultur als Wettbewerbsvorteil?
Ausnahmen seien das Gebäude- und Brandschutzabkommen für Bangladesch ("Accord"), das 56 Prozent aller untersuchten Unternehmen unterzeichnet hatten, die US-amerikanische "Allianz für Arbeitssicherheit in Bangladesch" ("Alliance") sowie das globale Übereinkommen "ACT" für existenzsichernde Löhne im Bekleidungs- und Textilsektor. Zudem zeige sich, dass die meisten Unternehmen immerhin erkennen, dass sie längerfristig mit Produzenten zusammenarbeiten und die Zahl der Zwischenhändler verringern sollten.
Bei der Befragung der Leitungsebene von rund 150 exportorientierten Fabriken sprachen 80 Prozent von einer "neuen Sicherheitskultur" nach Rana Plaza. "Das war uns eine Lehre. Accord und Alliance haben uns gezeigt, wie wir bestimmte Standards verbessern und aufrechterhalten können", sagte ein Manager. Ein anderer bezeichnete es als Wettbewerbsvorteil, die neuen internationalen Vereinbarungen zu unterzeichnen: "Weil wir Fabrikanten aus Bangladesch nun sagen können, dass wir die weltweit sicherste Bekleidungsindustrie haben."
Allerdings scheint es vor allem für die kleineren bis mittelgroßen Fabriken kaum leistbar, die erforderlichen Sicherheits-Maßnahmen innerhalb einer bestimmten Frist umzusetzen. Die durch Sanierung oder den Umzug in zweckmäßigere Fabrikgebäude anfallenden Kosten müssten sie allein tragen, kritisieren die Hersteller und fordern von den Marken- und Handelsunternehmen, dass die Verantwortung dafür geteilt wird. Andernfalls, so warnen auch die Wissenschaftler, könnte die hohe finanzielle Belastung zu einer Konzentration innerhalb der exportorientierten Industrie führen, bei der kleinere und mittlere Produzenten verdrängt werden. Denn die Fabriken stehen nach wie vor unter starkem Druck, schnell und zu niedrigen Preisen zu produzieren.
Hersteller und Händler unter Druck
Hier befinden sich die westlichen Marken- und Handelsunternehmen in der gleichen Zwickmühle wie die Fabrikanten, lautet ein weiteres Ergebnis der Studie: Auch sie haben typischerweise Profitmargen von unter fünf Prozent und sehen sich durch den Wettbewerb gezwungen, immer schneller und immer günstiger neue Mode auf den Markt zu bringen. Diesen Druck geben sie einfach an die Fabriken weiter. "Für höhere Löhne oder Investitionen in bessere Arbeitsstandards bleibt da selbst beim besten Willen wenig Spielraum", so ein Unternehmenssprecher. Zunehmend gefordert wird eine staatliche Regulierung, etwa in Form eines Gesetzes für menschenrechtliche Sorgfaltspflichten. Nur so könnten faire Wettbewerbsbedingungen geschaffen werden.
Aus Sicht der Arbeiterschaft hat es bei allen bestehenden Problemen doch positive Veränderungen nach Rana Plaza gegeben. Naila Kabeer befragte mit ihrem Team rund 1.500 Arbeitende von 250 Fabriken in und um Dhaka, zwei Drittel davon Frauen. In deren Wahrnehmung haben sich die Gesundheits- und Sicherheitsbedingungen seit 2013 deutlich verbessert, fasst die Professorin für Internationale Entwicklung und Gender-Studien an der London School of Economics and Political Science zusammen.
Nach Auskunft der mittlerweile geschaffenen Arbeitnehmervertretungen, den sogenannten "worker participation committees, hätten sich auch andere Punkte zum Guten hin verändert: "Die Arbeiter bekommen häufiger schriftliche Verträge, eine feste Anstellung - und die Löhne und Überstunden werden pünktlicher gezahlt." Dies lasse sich insbesondere bei jenen Fabriken feststellen, die dem "Accord" oder der "Alliance" beigetreten sind.
Mehr bindende Standards
Die Studie empfiehlt deshalb, auch zukünftig kollektive, rechtlich bindende Governance-Strukturen wie den "Accord" aufzubauen und Gewerkschaften systematisch einzubeziehen. Denn nur wenn sich eine kritische Masse an Unternehmen zu bestimmten Standards verpflichte, entstehe auch eine Wirkung. Es scheint jedoch – wie die ACT-Initiative für existenzsichernde Löhne zeige – ohne die mediale Aufmerksamkeit nach einem Unglück wie Rana Plaza schwierig, eine ausreichende Menge an Unternehmen für solche Initiativen zu begeistern.
Allerdings könnten kollektive Governance-Initiativen auch das bestehende Machtgefälle zwischen Einkäufern und Fabriken weiter verstärken. Wenn etwa westliche Firmen Einblick in die internen Produktionsabläufe ihrer Lieferanten haben und miteinander kooperieren, könnten sie sich absprechen und die Preise weiter nach unten drücken, so die Warnung. Auch hier seien den Möglichkeiten der Selbstregulierung durch Unternehmen klare Grenzen gesetzt.
Die Arbeiter und Arbeiterinnen fühlen sich seit Rana Plaza besser über die eigenen Rechte informiert, sagt Naila Kabeer. "Nicht zufrieden sind sie dagegen hinsichtlich des Lohns, der die steigenden Lebenshaltungskosten nicht deckt, wegen langer, unfreiwilliger Überstunden und Misshandlungen durch das Management." 80 Prozent der Befragten berichteten, dass sie mindestens einmal im Monat angeschrien, beleidigt und bedroht werden, vereinzelt auch geschlagen, wenn sie zu spät kommen oder die Arbeitsnormen nicht erreichen. "Vor Rana Plaza gab es weniger Druck bei der Arbeit und deshalb weniger Schimpfereien. Jetzt ist es anders herum", erzählt ein Arbeiter. "Die Zahl der Hilfskräfte ist gesunken, die Löhne bleiben niedrig, und es gibt zu viel Arbeitsdruck."
Das Geschäftsmodell des Modemarktes hat sich nach dem Einsturz von Rana Plaza nicht verändert, bedauert Elke Schüßler. "Solange weiterhin Unmengen von Kleidung zu Wegwerf-Preisen produziert werden, bleibt es schwierig, deutlich höhere Standards zu erreichen", kritisiert die Projektleiterin. Ethisch produzierte Mode gäbe es zwar, das sei aber auch von den Zahlen her ein absoluter Nischenmarkt. "Zwar ist viel damit gewonnen, dass in Bangladesch aufgrund der Investitionen in die Gebäudesicherheit so etwas wie Rana Plaza kaum wieder passieren kann. Doch der Accord ist auf Druck der Regierung in Bangladesch auf dem Rückzug. Sein Nachfolger ist umstritten und bleibt auf das Thema Gebäudesicherheit beschränkt." Diese Entwicklung sei nicht untypisch: "Ist die Aufmerksamkeit rund um eine Katastrophe wie Rana Plaza verblasst, gehen alle wieder zum Tagesgeschäft über. Es ist die Aufgabe von uns allen, die Erinnerung nicht verblassen zu lassen und Wirtschaft und Politik zur Verantwortung zu ziehen", sagt Elke Schüßler.