An das Wilde glauben
Simone Horstmann hält einen Paradigmenwechsel in unserer Beziehung zu anderen Tieren für längst überfällig. Ein Meinungsbeitrag aus unserem Magazin "Impulse".
Dass Menschen stets von größerer Bedeutung sind als (andere) Tiere, ist vielleicht der einzige interdisziplinär gültige Satz unserer wissenschaftlichen Community. Deren Methoden und Überzeugungen basieren auf der immer schon vorausgesetzten und stets neu vollzogenen Abwertung anderer Tiere. Die daraus nicht selten resultierende Gewalt an Tieren prägt unsere Gesellschaft auch deswegen so nachdrücklich, weil aus den Wissenschaften kaum Widerspruch vernehmbar ist.
Als Theologin wundere ich mich manchmal über den religiösen Eifer, der unser säkulares Wissenschaftssystem urplötzlich befällt, sobald es um Tiere geht: Gänzlich unbehelligt von den Erkenntnissen der modernen Verhaltensforschung pflegen wir nur zu gern ein Menschenbild, dessen dröhnender Triumphalismus jegliche Kritik übertönt. Dem Glaubensbekenntnis, dass wir als Menschen so gänzlich anders und furchtbar besonders seien, kann man sich offenkundig kaum entziehen – störende wissenschaftliche Erkenntnisse werden dann ebenso schnell aus dem Weg geschafft wie die eigene Empathie, sobald sie zarte Bedenken anmeldet. Und mal ehrlich: Wer lässt sich denn nicht gern in der Überzeugung bestätigen, Liebling des Universums zu sein?
Die Einsicht, dass unsere Menschenwürde allzu oft durch die scheinbare Unvernunft und die davon abgeleitete Minderwertigkeit aller anderen Tiere bewiesen wird, verdanken wir vor allem der Frankfurter Schule: Mensch und Tier sind in der europäischen Geistesgeschichte fast immer inkommensurable Größen – wenn "das Humane" wachsen soll, hat "das Animalische" zurückzustehen. Adorno und Horkheimer haben aber womöglich die religiöse Dimension dieser Ausschlussfigur übersehen. Es geht nicht nur um bloße Distinktionsgewinne, die die Abgrenzung von den Tieren in Aussicht stellt, sondern oft genug um die religiöse Top-Kategorie schlechthin – es geht um ein Versprechen auf Erlösung, das wir bis heute an das Leiden anderer Tiere knüpfen: Wenn unser Leben wirklich und bedeutungsvoll sein soll, dann braucht es das biopolitische Opfer der Tiere; es braucht jene Leben, deren bedeutungsloses Sterben unsere eigene Bedeutung validiert. Nicht ohne Grund prägt die religiöse Kategorie des freiwilligen Opfers bis heute vielfältigste Tiernutzungszusammenhänge: Kühe "geben" dann ihre Milch, Schweine "liefern" Fleisch, Mäuse "opfern ihr Leben im Dienst der Wissenschaft", Hunde "nehmen an Tierversuchen teil" – die Theologien haben ein Narrativ gestiftet, das viele heutige Tiernutzungszusammenhänge bestimmt, weil es suggeriert, dass dieses Opfer Menschen rettet. Die blutigen Altäre wurden zwar längst durch stylische Labore und industrielle Megaschlachthöfe ersetzt, aber die Operation bleibt doch die gleiche.
Nun können Sie natürlich einwenden, dass wir heute doch bereits viel weiter sind – es gibt Tierschutzgesetze, Tierwohllabel und einen enormen Boom von Nachhaltigkeitsdiskursen, deren Beliebtheit auch damit zu tun haben dürfte, dass sie immer noch ungebrochen vom Paradigma des Anthropozentrismus ausgehen. Eine wirkliche Auseinandersetzung mit den ethischen Ansprüchen anderer Tiere lassen sie gar nicht erst zu, weil ja "unsere Ressourcen" zu schonen und die Welt als Lebensgrundlage "für unsere Nachkommen" zu sichern sind. Kein Wunder also, dass sich die kultische Formel von der Nachhaltigkeit derart großer Beliebtheit erfreut: Sie lockt mit dem bequemen Versprechen, dass unsere Beziehung zur Mitwelt weitestgehend unverändert bleiben kann. Lediglich kleinteilige Änderungen scheinen nötig zu sein, die man dann wahlweise als bloß "technisch" oder gar als "spirituell" bezeichnet: damit auch ja deutlich wird, dass an diese Form der Nachhaltigkeit wirklich gar keine Grundsatzentscheidungen geknüpft sind, die uns reale, womöglich schmerzhafte Veränderungen abverlangen könnten.
Was wir meiner Überzeugung nach brauchen, ist ein tatsächlicher Paradigmenwechsel in unserer Beziehung zu anderen Tieren. Meine eigenen Interspezies-Erprobungen haben mich Bekanntschaft mit einigen Hühnern machen lassen – sechs Hennen, die aus einer sogenannten Bodenhaltung zu mir kamen. Gern würde ich sagen, dass ich sie "gerettet" hätte – aber nicht nur das theologische Pathos widerstrebt mir mittlerweile. Manchmal treibt mich sogar der Gedanke um, dass es genau umgekehrt war. Die sechs Hennen haben meinen theologischen Retterkomplex sehr schnell kuriert – sie waren, obschon in einem katastrophalen "Zustand", nie nur Opfer, sondern aktiv, lebendig, mit einem starken Willen und Stolz ausgestattet, wie er vielleicht einzig Hühnern eigen ist.
Es braucht kein umfangreiches biologisches Vorwissen, um selbst in diesen industriell gezüchteten Tieren die dinosaurierartigen Züge ihrer evolutionären Vorfahren zu erkennen. An das Wilde zu glauben, das bedeutet also vielleicht: andere Tiere auch jenseits unserer überkommenen Wahrnehmungsschemata kennenzulernen, unseren Erfahrungen mit ihnen trauen zu können und diese nicht rundheraus zu pathologisieren oder als unwissenschaftlich zurückzuweisen. Wie oft wurde mir schon empfohlen, doch besser Gedichte zu schreiben oder Bilder zu malen, weil man die intensive, empathische Auseinandersetzung mit Tieren in den Wissenschaften für deplatziert hielt. Die Furcht vor der sprichwörtlichen Crazy Cat Lady und ihren Tieren, die Angst vor Wahrnehmungen und Erkenntnissen, die unser Leben tatsächlich verändern könnten, hat unser Wissenschaftssystem an vielen Stellen zu einer Erfahrungsunfähigkeit verdammt, die wir uns heute weniger denn je leisten können.