"Die Debatte": Wissenschaftskommunikation auf allen Kanälen
Schon vor Corona nutzte "Die Debatte" soziale Netzwerke, um auch junge Menschen für Wissenschaft zu interessieren. Ein Pilotprojekt für hybride Veranstaltungskonzepte, gefördert von der VolkswagenStiftung.
Es war ein Jahr der politischen Schockwellen: Im Frühjahr 2016 stimmten die Briten für den Brexit. Im Herbst wählten die US-Amerikaner Donald Trump zu ihrem Präsidenten. Mehrheiten kamen in beiden Fällen auch dadurch zustande, dass Bürgerinnen und Bürger manipuliert und belogen wurden. Schlagworte wie "Fake News" und "Alternative Fakten" wurden damals erfunden. Thorsten Witt – 2016 Projektleiter bei Wissenschaft im Dialog (WiD), der Initiative der deutschen Wissenschaft für Wissenschaftskommunikation – war klar: "Wissenschaftliche Fakten würden es ab sofort noch schwerer haben, Eingang in öffentliche Meinungsbildungsprozesse zu finden."
Wissenschaftliche Fakten statt Meinungen und Propaganda
Diesem Trend wollte WiD, gemeinsam mit dem Science Media Center (SMC) und der TU Braunschweig, etwas entgegensetzen. Die drei Partner entwickelten ein neues Format der Wissenschaftskommunikation: "Die Debatte". "Unser Ziel war es," sagt Witt, "mit einem zeitgemäßen Format möglichst viele Menschen zu erreichen. Wir wollten sie für wissenschaftliche Fakten und den Prozess der wissenschaftlichen Erkenntnisgewinnung interessieren."
Möglichst viele Menschen hieß: Es sollte nicht nur das ohnehin an Wissenschaft interessierte Publikum angesprochen werden, das für eine Diskussionsveranstaltung auch den Weg in eine Universität oder ein Forschungsinstitut nicht scheut. "Die Internet-Affinen, die Social-Media-Begeisterten, junge Menschen, die bislang wenig mit Wissenschaft in Berührung gekommen sind – die wollten wir mit dabei haben", sagt Witt.
Über Wissenschaft reden: im Saal und im Netz
Deshalb entstand der Plan, eine Live-Veranstaltung mit einer breiten Palette weiterer Kommunikationsformate zu verbinden: Videos, in denen das Diskussionsthema prägnant vorgestellt wird. Ein Live-Streaming durch den Medienpartner faz.net, der eine große Reichweite bietet. Hintergrundmaterial, das schon vor der Veranstaltung auf der Website die-debatte.org abrufbar ist. Social Media-Kanäle von Facebook über Twitter bis Instagram. Und einen Newsletter, der nach jeder Debatte die wesentlichen Standpunkte und Informationen zusammenfasst. Der ganze Aufwand verpufft allerdings, wenn er den falschen Themen gewidmet wird. Deshalb betreiben die Macher erheblichen Rechercheaufwand, online wie offline, um Themen zu identifizieren, die hohe gesellschaftliche und wissenschaftliche Relevanz aufweisen und kontrovers diskutiert werden, zum Beispiel in den Medien und den einschlägigen Internetforen.
Wissenschaftsthemen, die viele interessieren
WiD, TU Braunschweig und SMC suchten mit ihrem Konzept Finanziers und fanden unter anderem Unterstützung bei der VolkswagenStiftung. Im Mai 2017 konnte es losgehen – mit Themen wie digitalisierte Kindheit, Genomchirurgie, Geoengineering oder Wohnungsmarkt. Aktuell kreisen die Beiträge auf der Homepage um das Thema Atomendlager. Christoph Koch, Ressortleiter Wissenschaft beim STERN, moderierte auf der Bühne; Mai Thi Nguyen-Kim, die inzwischen sehr populär gewordene Wissenschafts-Videobloggerin, fungierte im Saal als "Anwältin des Publikums": Sie sammelte die Fragen der Anwesenden an die Expertinnen und Experten auf der Bühne und die Zugeschalteten im Netz, die sich über Twitter beteiligen konnten.
Moderation auf Augenhöhe: mit den Expertinnen und Experten und dem Publikum
Christoph Koch ist bis heute der "Debatte" als Moderator treu geblieben. Er schätzt insbesondere den hohen Anspruch, den das Redaktionsteam verfolgt: "Das ist keine leichte Kost. Und zwar sowohl für das Publikum als auch für mich als Moderator." Bei jeder Debatte seien die Expertinnen und Experten auf dem Podium Führende in ihrem Fach, so Koch. Vor den Terminen befasst er sich intensiv mit deren jüngsten Studien und Veröffentlichungen – auch um mit journalistischem Instinkt strittige Punkte zu finden, die später die Diskussion auf der Bühne beleben und dem Publikum zeigen sollen, wie sich durch faktenbasierte Debatten Wissensräume erweitern.
Kochs Erfahrung ist, dass die Forschenden diesen Ansatz durchaus schätzen: "In der Diskussion gehen sie gut mit Polarisierung um und polarisieren selbst auch mal." Fragen, die die "Anwältin des Publikums" in die Diskussion hineinträgt, unterstützen diese Dynamik. "Dabei werden aber stets die Regeln des akademischen Diskurses befolgt", so Koch. Sprich: Es bleibt sachlich und respektvoll. Auch das eine Tugend, die in der gegenwärtig aufgeheizten öffentlichen Debatte zusehends verroht.
Was das Publikum von den Expertinnen und Experten erwartet
Um die Wirkung des neuen Vermittlungsformats zu messen, wurde Die Debatte vom Start weg von einem Begleitforschungsteam beobachtet. Verantwortlich dafür war Monika Taddicken, Professorin für Kommunikationswissenschaft an der TU Braunschweig. Mit Live-Befragungen haben sie und ihr Team die Erwartungen und Erfahrungen der Gäste vor Ort ermittelt. Dabei wurden viele Annahmen bestätigt, die die Macherinnen und Macher der "Debatte" in ihrem redaktionellen Programm realisieren. So werden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler dann als besonders verständlich und kompetent wahrgenommen, wenn sie kurze Sätze formulieren, Aussagen illustrieren, Beispiele schildern und Bezüge zur Lebenswelt des Publikums schaffen. Die häufige Verwendung von Wissenschaftsjargon fiel eher negativ auf.
Ähnliche Ansprüche hinsichtlich der Verständlichkeit hat das Publikum auch gegenüber dem Moderatoren-Duo. Von ihrer Vermittlungskunst hängt die Wirkung des Formats insgesamt ab. Denn wenn schon die Fragen unverständlich sind oder in die falsche Richtung zielen – wie soll dann eine gute Debatte gelingen? In den Befragungen hat sich zudem gezeigt, dass das Publikum großen Wert legt auf eine Vielfalt wissenschaftlicher Blickwinkel. "Das zählt zu den wichtigsten Erwartungshaltungen aller Gruppen im Publikum", sagt Monika Taddicken.
Raus aus den Städten, ab aufs Land?
Mit dem Format "Die Debatte" kann es also gelingen, Wissenschaft lebendig und vielfältig erlebbar zu machen. Dieser positive Effekt erfordert aber auch viel Aufwand. Denn bei den Debatten sind nicht nur das Panel auf dem Podium und die Moderatoren aktiv. Viele weitere Menschen arbeiten im Hintergrund. "Das Publikum im Saal merkt gar nicht, wie viel Aufwand dahintersteckt", sagt Thorsten Witt, der mittlerweile Geschäftsführer des "Hauses der Wissenschaft" in Braunschweig ist und "Die Debatte" schon mehrfach in sein Haus eingeladen hat.
Wissenschaftsjournalist Christoph Koch hält den Aufwand aber für gerechtfertigt und plädiert sogar für eine Ausweitung: "Auch in kleinen und mittleren Städten leben Menschen, die Interesse an wissenschaftlicher Diskussion haben. ‚Die Debatte‘ sollte deshalb jetzt mal raus aus den Universitätsstädten und ins flache Land gehen."