Neue Sicht auf neurodegenerative Erkrankungen
#PioniervorhabenDie Biophysikerin Janna Nawroth will herausfinden, wie Flimmerhärchen auf der Zelloberfläche, sogenannte Zilien, die Entstehung neuronaler Krankheiten und neurologischer Zustände wie den Schlaf beeinflussen. Ein "Pioniervorhaben".
Ihr jüngstes Forschungsprojekt widmet sich den Zilien. Können Sie uns erklären, was Zilien sind und welche Rolle sie in unserem Körper spielen?
Janna Nawroth: Diese haarähnliche Strukturen auf der Oberfläche von Zellen bewegen sich rhythmisch, um Flüssigkeiten zu transportieren. Sie kommen in vielen Organismen vor, von Einzellern bis hin zu komplexen Lebewesen wie uns Menschen. Im menschlichen Organismus sind sie an verschiedenen Stellen im Körper zu finden, zum Beispiel in den Atemwegen, wo sie Schleim, Keime und Fremdkörper aus der Lunge befördern. Besonders spannend ist ihre Rolle in den Hirnventrikeln, den flüssigkeitsgefüllten Hohlräumen unseres Gehirns.
Was machen sie dort?
Sie sorgen dafür, dass das Hirnwasser, der sogenannte Liquor, in Bewegung bleibt. Das wiederum ist wichtig als Wärmeschutz oder für den Stoffwechsel der Nervenzellen von Gehirn und Rückenmark.
Wie kamen Sie auf Ihr Forschungsobjekt? Vor Ihnen hat noch kaum jemand die Zilien im menschlichen Gehirn untersucht.
Tatsächlich habe ich meine ersten Forschungen an Meeresorganismen wie Tintenfischen, Quallen und Tiefseekaulquappen durchgeführt. Mit den Zilien bewegen sie sich im Wasser oder transportieren Nahrung. Später erforschte ich die Flimmerhärchen auf den Atemwegen. Das Interessante ist: Zilien funktionieren bei Pantoffeltierchen und Mensch ganz ähnlich! Die Mechanik, mit der Zilien schlagen und Flüssigkeiten bewegen, ist über die Evolution hinweg fast unverändert konserviert worden.
Und doch erfüllen sie unterschiedliche Aufgaben.
Richtig. Bei Meerestieren bewegen sie meist Wasser, bei Säugetieren hängt die Funktion vom jeweiligen Gewebe ab. Es war also ein natürlicher Schritt für mich, nach der Erforschung der Meeresorganismen zu überlegen: Welche Rolle spielen diese Strukturen wohl beim Menschen, insbesondere in Organen, über die wir noch nicht viel wissen, wie etwa das Gehirn?
Wie näherten Sie sich der Bedeutung der Zilien für das menschliche Gehirn an?
Wir wissen heute: Bei fast alle chronischen Lungenkrankheiten ist die Funktion der Flimmerhärchen gestört. Während meiner Arbeit an Zilien in den Atemwegen fand ich in der Literatur erste Hinweise, dass sie im Gehirn eine komplexe Rolle haben könnten. Viele Forschende denken bis heute, dass die Zilien im Gehirn nur eine simple "Rührfunktion" haben, also die Flüssigkeit umwälzen, um Nährstoffe zu verteilen.
Und dem ist gar nicht so?
Ich stieß auf eine Studie, die zeigte, dass diese Flüssigkeitsströme viel komplexer sind als bisher angenommen. Das machte mich neugierig: Könnte es sein, dass die Zilien im Gehirn die Flüssigkeit nicht nur wahllos mischen, sondern sie zielgerichtet bewegen und damit aktiv an Prozessen wie der Signalübertragung beteiligt sind?
Das klingt nach einer gewagten Hypothese. Erklären Sie die Hintergründe noch etwas genauer.
Es gibt Hinweise darauf, dass die Zilien im Gehirn gezielt Flüssigkeitsströme erzeugen. Man könnte sie mit einem Verkehrsnetz aus Autobahnen und Abzweigungen vergleichen. Aus dieser Beobachtung zog ich den Schluss, dass die Flüssigkeitsströme Botschaften in Form von chemischen Signalen in bestimmte Gehirnregionen transportieren. Noch spannender wird es, wenn wir uns vorstellen, dass diese Ströme durch neuronale Signale gesteuert werden könnten, die die Zilien in Bewegung versetzen.
Welche könnten das sein?
In meinen früheren Arbeiten habe ich bereits gezeigt, dass sich die Schlagfrequenz der Zilien durch chemische Stoffe verändern lässt. Meine Hypothese ist nun, dass diese Schlagfrequenz auch im Gehirn gezielt reguliert wird, um unterschiedliche Strömungsmuster zu erzeugen. Dies ist eine völlig neue Sicht auf die Rolle der Zilien im Gehirn.
Welchen Einfluss wird Ihre Forschung langfristig auf die Medizin haben?
Wenn wir nachweisen, dass die Zilien im Gehirn tatsächlich durch neuronale Stimulation bestimmte Strömungsmuster erzeugen, könnte dies unser Verständnis von neurodegenerativen Erkrankungen revolutionieren. Es gibt Hinweise darauf, dass die Zilienfunktion bei Krankheiten wie Alzheimer oder Schizophrenie gestört ist.
Und das heißt?
Wenn wir verstehen, wie diese Ströme gesteuert werden und welche Rolle die Zilien bei der Signalübertragung im Gehirn spielen, ließen sich daraus vielleicht neue Ansätze zur Behandlung oder Vorbeugung solcher Krankheiten entwickeln.
Ihre Forschungen klingen extrem aufwändig...
Die Technik nimmt uns da einiges ab. Wir verwenden computergestützte Modelle, um die Strömungen zu simulieren, die die Zilien erzeugen. So können wir unsere Hypothesen testen, bevor wir die teuren und zeitaufwendigen Experimente im Labor durchführen. Ein Beispiel: Wir simulieren, dass Zilien Flüssigkeitsströme lenken, indem sie ihre Schlagfrequenz verändern, was in Sekundenschnelle geht, ohne dabei aber ihre Schlagrichtung ändern zu müssen, was Tage bis Wochen dauern würde. Ein solcher Mechanismus würde es erlauben, dass Zilien im Gehirn gezielt und blitzschnell neue Strömungen erzeugen könnten, die bestimmte Moleküle anreichern oder Signale transportieren. Im nächsten Schritt überprüfen wir die Hypothesen in realen Experimenten.
Was macht Ihre Forschung so außergewöhnlich, dass sie von der VolkswagenStiftung als "Pioniervorhaben" gefördert wird?
Die VolkswagenStiftung unterstützt Projekte, die an die Grenzen des bisherigen Wissens gehen und neue, unkonventionelle Wege beschreiten. Meine Hypothese, dass Zilien im Gehirn nicht nur mechanische, sondern auch neuronale Funktionen haben könnten, ist sehr spekulativ und wurde bisher kaum untersucht. Solche Ideen lassen sich nur schwer mit klassischen Forschungsanträgen finanzieren. Dafür muss man meist ziemlich konkrete Ergebnisse vorweisen und zeigen, dass eine wissenschaftliche Idee funktioniert.
Die Stiftung geht hier einen anderen Weg. Sie fördert Projekte, die vielleicht noch keine belastbaren Daten, aber großes Potenzial haben.
Was wirklich großartig ist! Mit diesem Projekt baue ich eine ganz neue Richtung in meiner Arbeitsgruppe am Helmholtz Pioneer Campus auf. Ich brauche jemanden, der diese Forschung leitet und die Experimente vorantreibt. Wir benötigen neues Equipment, um unsere Hypothesen zu testen, etwa ein ganz spezielles Mikroskop, um die Zilienbewegungen der Epithelzellen im Gehirn sichtbar zu machen. Und dann müssen wir die Experimente sehr präzise planen, aber auch Änderungen machen dürfen, um neuen Erkenntnissen nachzukommen. Der Grant gibt mir die Freiheit, Risiken einzugehen und zugleich potenziell bahnbrechende Entdeckungen zu machen.
Wie weit sind Sie mit Ihren Experimenten?
Die ersten Schritte sind getan. Vor kurzem habe ich einen begeisterten und talentierten Wissenschaftler aus Italien eingestellt. Er hat bereits eine Methode entwickelt, mit der wir die Zilien im Gehirn von Mäusen erfolgreich unter dem Mikroskop beobachten können. Der nächste Schritt ist nun, diese Zilien mit Neurotransmittern zu manipulieren und zu testen, ob sich die Ströme der Flüssigkeiten verändern. Das ist aufregend und wir hoffen, in den nächsten Monaten konkrete Ergebnisse zu sehen.
Was wollen Sie in den nächsten zwei Jahren erreichen?
Mein Ziel ist es, genügend Daten zu sammeln, um das Projekt weiter auszubauen und weitere Fördermittel zu bekommen. Mich interessiert zum Beispiel brennend, welche anderen Organe im Menschen ähnliche Mechanismen nutzen. Es gibt viele Hinweise darauf, dass die Zilien auch in der Lunge und den Fortpflanzungsorganen eine komplexe, wenig verstandene Rollen spielen. Ich glaube, dass wir erst an der Oberfläche des neuen Wissens kratzen.