Klimawandel: "Es gilt wirklich, jetzt zu handeln"
Freigeist-Fellow Niklas Boers entwickelt neuartige Vorhersagemodelle für das Erd- und Klimasystem. Im Interview erklärt er, welche Erkenntnisse sie bereits liefern – und was daraus geschlossen werden sollte.
Niklas Boers realisiert sein Freigeist-Projekt "Predicting Abrupt Transitions and Extreme Events in the Earth System" an der TU München. Dort hat er seit Oktober 2021 die Professur für Earth System Modelling inne.
Herr Boers, bitte geben Sie uns einen Einblick in ihre Forschung, woran arbeiten Sie?
Ich erforsche mit meinem Team abrupte Übergänge und Extremereignisse im Erd- und Klimasystem. Wir möchten bessere Vorhersagen solcher Ereignisse ermöglichen, indem wir die rein physikalisch basierten Modelle um datengetriebene Modelle und insbesondere neuronale Netzwerke erweitern. Das hilft uns, akkuratere, also genauere Vorhersagen treffen zu können, sowohl was Klimamodelle betrifft als auch z. B. für die Wettervorhersage.
Wir konnten etwa kürzlich belegen, dass sich auf diese Weise der Vorhersagehorizont des Beginns des indischen Sommermonsuns von etwa 40 auf 80 bis 90 Tage verdoppeln lässt
Welche Erkenntnisse haben Ihnen die neuen Methoden noch ermöglicht?
Ich habe kürzlich gezeigt, dass eine Ozeanströmung im Atlantik, die Atlantic Meridional Overturning Circulation (AMOC), nicht nur langsamer wird, sondern auch an Stabilität verliert. Bevor ich auf die Details eingehe ist mir noch eine Richtigstellung wichtig: In einigen Medien wurde geschrieben, dass ich nachgewiesen hätte, dass der Golfstrom bald abbricht. Das ist nicht korrekt wiedergegeben – den Golfstrom wird es geben, solange die Erde sich dreht.
Um welche Strömung handelt es sich genau?
Die AMOC ist eine Ozeanströmung, die im Atlantik von Süden nach Norden fließt, sie ist getrieben durch Dichteunterschiede. Da auf dem Weg stetig ein Teil des Wassers verdunstet, vergrößert sich der Salzgehalt des Wasser immer weiter. Das heißt warmes, salzhaltiges Wasser kommt im Nordatlantik an und kühlt dort ab. Dieses dann sehr kalte, salzige Wasser ist schwerer und sinkt ab, so fungiert es als Motor für die Ozeanzirkulation. Es gibt eine positive Feedbackschleife: Je mehr Salz durch die Strömung nach Norden transportiert wird, desto stärker wird die Strömung. Leider gilt auch: Je mehr Süßwasser etwa durch Eisschmelze in den nördlichen Atlantik kommt, desto schwächer kann die Zirkulation werden.
Wie hat sich die AMOC verändert?
Die Stärke der Strömung hat über die Jahrtausende immer variiert. Seit etwa 10.000 Jahren ist die Strömung im starken Modus, aber der aktuelle Strömungszustand ist trotzdem der schwächste seit mindestens 1500 Jahren. Die Abschwächung der letzten einhundert Jahre hat wahrscheinlich etwas mit der globalen Erwärmung zu tun. Wir wollten nun herausfinden, ob es sich um ein rein graduelles Abschwächen oder um eine Destabilisierung in Richtung eines kritischen Punktes handelt. An diesem sogenannten Kipppunkt würde die Strömung abrupt schwächer. "Abrupt" heißt dann immer noch, dass es Jahrzehnte dauert, aus klimatologischer Sicht ist das jedoch wahnsinnig schnell. Die nature-Studie "Observation-based early-warning signals for a collapse of the Atlantic Meridional Overturning Circulation" zeigt, dass wir uns weiter in Richtung eines potentiellen Kipppunktes bewegt haben.
Wie kann sich eine Abschwächung der Ozeanzirkulation auswirken?
Sollte sich die AMOC diesem Kipppunkt nähern und ihn sogar überschreiten, das heißt noch deutlich schwächer werden, hat das weitreichende Auswirkungen auf das globale Klima und auf viele verschiedene Komponenten im Erdsystem. Ganz konkret würde es beispielsweise zu einer deutlichen Absenkung der durchschnittlichen Temperaturen vor allem im nördlichen Europa führen, aber auch zu Veränderungen in den tropischen Monsunsystemen.
Wie kommt es zu dieser Abschwächung der Strömung?
Einerseits dehnen sich die Wassermassen durch die Erwärmung aus, wodurch sie im Nordatlantik nicht mehr so schnell absinken. Anderseits durch den Einstrom von Süßwasser, wie eben schon kurz erwähnt; insbesondere Schmelzwasser vom Grönland Eisschild spielt hier eine wichtige Rolle. In einer weiteren Studie haben wir gezeigt, dass auch ein Teil des Grönlandeisschildes im Laufe des letzten Jahrhunderts an Stabilität verloren hat. Durch die zunehmende Schmelze gelangt viel Süßwasser in den Nordatlantik und verdünnt dort das Salzwasser. Unsere Hypothese ist, dass die physikalische Ursache für das Abschwächen der AMOC zumindest auch in der Schmelze des Grönland Eisschilds und des arktischen Meereises zu suchen ist. Der dichtegetriebene "Motor" der Zirkulation verlangsamt sich durch die Verdünnung.
Welchen Schluss ziehen Sie aus diesen Erkenntnissen im Hinblick auf die gerade abgeschlossene COP26, die Climate Change Conference in Glasgow?
Auf mein Fachgebiet bezogen: Im aktuellen Bericht des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC), und insbesondere dem sogenannten "Summary for Policy Makers", auf dessen Grundlage in Glasgow gearbeitet wird, spielen die Risiken von abrupten Übergängen im Erdsystem, wie etwa die Abschwächung der AMOC, die Destabilisierung des Grönlandeises oder auch ein möglicher Übergang des Amazonas Regenwalds in eine Savanne, keine zentrale Rolle. Das liegt zum Teil auch an der – sehr guten – Konsens-orientierten Arbeitsweise des IPCC. Ich denke, dass wir dringend einen IPCC Special Report zu Kipppunkten benötigen, der dann hoffentlich eine weitere Grundlage für zukünftige Verhandlungen sein wird. Auf einen solchen Sonderbericht arbeiten wir auch im Kontext unseres Horizon2020 Projektes "Tipping Points in the Earth System" hin.
Insgesamt gilt: Der Klimawandel ist hochkomplex, so dass wir nicht alles minutiös vorhersagen können, aber das prinzipielle Verständnis ist: Je mehr wir die Erde erwärmen, und zwar mit jedem Zehntel Grad, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass wir abrupte Übergänge und Extremereignisse und damit auch praktisch irreversible Prozesse in Gang setzen. Das einzige, was man sinnvollerweise tun kann, ist jetzt, in diesem Moment, anzufangen, so viele Treibhausgasemissionen wie möglich einzusparen. Wir müssen das Eingreifen des Menschen in das Erdsystem so schnell es geht wieder reduzieren. Es wird keinen Zeitpunkt geben, an dem wir alles wissen und dann loslegen können. Es gilt wirklich, jetzt zu handeln.
Auf welchen Meilenstein arbeiten Sie derzeit mit ihrer eigenen Forschung hin?
Es wird nicht mehr lange dauern, bis wir qualitativ eine komplett neue Generation von Erdsystem-Modellen und Klimamodellen bauen können, in die Machine-Learning und neuronale Netzwerke integriert sind. Darauf freue ich mich, denn ich bin sehr gespannt, was wir mit diesen neuartigen Modellen noch alles herausfinden werden, wenn wir sie dann laufen lassen können. Wir reden hier aber, wie so oft in der Wissenschaft, von einem Zeithorizont von etwa 5 Jahren.