Zwischen Fremdscham und Schamverlust

Scham ist ein Gefühl mit vielen Facetten: Ist Schämen ein Ergebnis unserer Sozialisation? Ist Scham in der Natur oder der jeweiligen Kultur angelegt? Hat unsere Gesellschaft die Scham verloren – und: ist dieser Schamverlust vielleicht sogar organisiert?
Veranstaltungsbericht zum 30. Herrenhäuser Gespräch am 22. Januar 2015"Schämt Ihr Euch nicht? Abschied von einer nützlichen Empfindung" mit Dr. Gabriele Frick-Baer, Prof. Dr. Bettina Schuhrke, Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Niels Birbaumer, Ulrich Greiner und Prof. Dr. Ulrich Krempel
Das Herrenhäuser Gespräch hatte Scham zum Thema. (Foto: Cora Sundmacher für VolkswagenStiftung)

Die Herrenhäuser Gespräche feierten zum Jahresauftakt ein Jubiläum: Die Veranstaltung fand zum 30. Mal statt. Bei seiner Premiere warf Dr. Ulrich Kühn von NDR Kultur – er trat erstmals als Nachfolger von Stephan Lohr als Moderator der Herrenhäuser Gespräche auf – zum Einstieg einen Blick auf die aktuellen Entwicklungen. In den heftigen Diskussionen rund um die Proteste der Pegida-Bewegung werde auch der gegenseitige Vorwurf "Schämt euch!" laut. Doch zunächst wurde dieser Aspekt nicht weiter ausgeführt, da die Diskutanten den Schambegriff aus jeweils eigener Perspektive umrissen und gemäß ihrer verschiedenen Fachgebiete unterschiedliche Schwerpunkte setzten.

Die Wächterin des intimen Raums
Ulrich Greiner,

Journalist und Autor des Buches "Schamverlust. Vom Wandel der Gefühlskultur", beschrieb das Schamgefühl als etwas Unangenehmes, das zur existenzvernichtenden Erfahrung werden kann. In der Literatur finde man häufig die Verarbeitung von Schamgefühlen. "Heute ist die gesellschaftliche Ausdrucksform jedoch eher die Peinlichkeit", erklärte er. Im Unterschied zu Schamgefühlen bringe sich aber niemand wegen Peinlichkeiten um.

Weshalb Menschen extrem unter Scham leiden können, machte Dr. Gabriele Frick-Baer deutlich. Sie beschrieb die Scham als "Wächterin des intimen Raums". Bei ihrer Arbeit als Leib- und Traumatherapeutin begegne sie immer wieder Menschen, bei denen dieser natürliche Schutzraum der eigenen Identität durchbrochen wurde. Das ist zum Beispiel beim Erfahren sexueller Gewalt der Fall. Der Austausch mit anderen könne Betroffenen helfen, den Schutzraum der körperlichen Privatsphäre zu regenerieren.

Schamgefühle in Biologie und Kunst

Gibt es Menschen, die keine Scham empfinden? Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Niels Birbaumer von der Universität Tübingen hat als Neurobiologe solche Fälle untersucht. Bei einigen stellte er trotz schwerster Verbrechen und Jahren im Gefängnis "eine Nichtexistenz des Schamgefühls" fest. "Bestimmte Areale des Gehirns müssen funktionieren, um Scham empfinden zu können", erklärte der Wissenschaftler. Ein Defekt sei zwar behandelbar, dies sei aber sehr mühsam.

Dr. Gabriele Frick-Baer, Leib- und Traumatherapeutin, erläuterte die Ursachen für Scham. (Foto: Cora Sundmacher für VolkswagenStiftung)

Die Gesprächsrunde kam recht schnell zu der gemeinsamen Erkenntnis, dass Scham sich im Laufe der Geschichte stark verändert hat und von Kultur zu Kultur variiert. Besonders deutlich machten dies die Aussagen von Prof. Dr. Ulrich Krempel, Kunsthistoriker und ehemaliger Direktor des Sprengelmuseums. Er referierte über die Scham in der Kunst und zeigte anhand einiger Werke "den Inbegriff des Schönen für Künstler – den nackten Menschen". Am Beispiel der nackten Christusstatue von Michelangelo, ein Auftrag der Kirche, machte er den Wandels des Schamgefühls deutlich: Die Figur musste später mit Feigenblättern ergänzt werden. "Viele Werke waren zu ihrer Entstehungszeit höchst brisant und skandalträchtig", bemerkte Greiner. Heutzutage sei solche Nacktheit niemandem mehr peinlich.

Körperscham bei Jugendlichen – Gleichaltrige als Kritiker

Kann man allgemein von einem gesellschaftlichen Schamverlust sprechen? Was würde das für unsere Moral bedeuten, die laut Greiner ohne Scham gar nicht denkbar wäre?

Der Neurobiologe Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Niels Birbaumer erklärte, dass bestimmte Areale des Gehirns funktionieren müssen, damit der Mensch Scham empfinden kann. (Foto: Cora Sundmacher für VolkswagenStiftung)

Hier gab Prof. Dr. Bettina Schuhrke, Psychologin der Evangelischen Hochschule Darmstadt, aus ihrer Perspektive Entwarnung: "Gerade bei Jugendlichen ist die Körperscham noch immer stark ausgeprägt. Bereits im Alter von vier bis sechs Jahren entwickeln Kinder Scham, wobei die Einflüsse der Sozialisation und die natürliche Anlage nicht leicht zu trennen sind." In der Pubertät ist die Unsicherheit über den eigenen Körper am größten und Gleichaltrige würden häufig als die härtesten Kritiker erlebt, betonte Schuhrke.

Fremdschämen beim Dschungelcamp

Dass Menschen in komplizierten Regelwerken leben, nannte Moderator Kühn als eine Grundlage für Scham: Verstößt einer gegen Regeln oder glaubt, dies zu tun, entstehen Schamgefühle. Medienkritisch hob Ulrich Krempel einen besonderen, aktuellen Aspekt hervor: Er vertrat die Überzeugung, dass ein "organisierter Schamverlust" stattfindet. Beispielsweise würden in Sendungen wie dem Dschungelcamp "Prominente" bewusst von geschulten Menschen – Entwicklern und Ausführenden – bloßgestellt. "Die Bedürfnisse der Zuschauer werden hier auf unterster Ebene befriedigt. Das will das Publikum eigentlich nicht, aber es wurde so erzogen", erklärte Krempel.

Prof. Dr. Bettina Schuhrke, Psychologin der Evangelischen Hochschule Darmstadt, berichtete von der Entwicklung der Scham während des Erwachsenwerdens. (Foto: Cora Sundmacher für VolkswagenStiftung)

Diese Beobachtung ergänzte Birbaumer um die neurobiologische Perspektive. Demnach funktionieren Konzepte wie das des Dschungelcamps nur bei Zuschauern, die selbst Scham gelernt haben und sich beim Fernsehen fremdschämen. Zusammenfassend bezeichnete Birbaumer Scham als die "soziale Angst vor der Bewertung anderer". Diese Definition fand allgemeine Zustimmung. "Wir lernen, wofür wir uns schämen müssen", stellte auch Bettina Schuhrke fest.

Lässt sich das Gewissen ausschalten?

Kontroverse Züge nahm das Gespräch an, als Krempel Bezug zum Anschlag auf das Satiremagazin "Charlie Hebdo" nahm: Scham der Täter über ihre eigene Situation in der westlichen Gesellschaft sei möglicherweise ein Auslöser für deren Aggressionen gewesen. Frick-Baer betonte, dass die Tat mit dieser Argumentation auf keinen Fall entschuldigt werden darf und Greiner bezweifelte, dass mangelnde Integration derart tiefgreifende Schamgefühle erzeugen kann. Birbaumer forderte dazu auf, die Konstanten im Hintergrund gegenüber tagespolitischen Diskussionen nicht zu vernachlässigen. Ihm zu Folge sind die Gehirnareale, die für Schamgefühle zuständig sind, extrem lernfähig. "Aus einem Syrienkämpfer heute kann morgen problemlos ein guter Familienvater werden. Denn das Gewissen passt sich der jeweiligen Situation an", erläuterte Birbaumer. Die Psychologin Schuhrke konnte das bestätigen. Gehöre jemand einer Gruppe an, in der Töten als Norm anerkannt wird, sehe er auch keinen Grund sich zu schämen. Beim Wechsel der Gruppe und Ansichten änderten sich die Normen entsprechend.

Der Kunsthistoriker und ehemalige Direktor des Sprengelmuseums in Hannover, Prof. Dr. Ulrich Krempel, referierte anhand von Beispielen über die Scham in der Kunst. (Foto: Cora Sundmacher für VolkswagenStiftung)