Zwischen Dürfen, Können und Müssen – Leopoldina-Lecture über Gentherapien
Welche Möglichkeiten zeigt die Forschung an Gentherapien heute auf? Welche Bedeutung hat hier Grundlagenforschung angesichts ethischer Konsequenzen? Veranstaltungsbericht zur 10. Leopoldina-Lecture der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina in Kooperation mit der VolkswagenStiftung im Schloss Herrenhausen am 21. Februar 2017.
Erfolg und Alltag
"Die Gentechnik ist eine Erfolgsstory", stellt Prof. Dr. Claus Bartram in seinem Grußwort zur Leopoldina-Lecture "Genom-Chirurgie in der Humanmedizin? Gibt es bald Fortschritte in der Gentherapie?" fest. Er ist Humangenetiker und Kinderarzt mit wissenschaftlichem Schwerpunkt auf Tumorgenetik. Außerdem ist er Präsidiumsmitglied der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina, die Politik und Öffentlichkeit wissenschaftsbasiert zu zentralen gesellschaftlichen Herausforderungen berät. Seit dem Jahr 2014 greift die Reihe der Leopoldina-Lectures Themen aus den Stellungnahmen der Akademie auf und diskutiert sie öffentlich mit Experten. Die sogenannte "rote Gentechnik", die sich mit medizinischen Therapien für den Menschen befasst, sei in vielen Bereichen des Alltags angekommen, erklärt Bartram. Er nennt Krebstherapien, die Behandlung von Diabetes mit neuen Insulinen und die Hepatitis-Schutzimpfung als Beispiele: "Auf dem Markt sind über 150 Wirkstoffe in über 200 Medikamenten."
Grundlagenforschung und Heilsversprechen
Während die sogenannte "grüne Gentechnik", die sich auf die Erforschung der genetischen Veränderung von Pflanzen bezieht, umstritten sei, stoße die "rote Gentechnik" in der Bevölkerung längst auf breite Zustimmung, berichtet Prof. Dr. Claus Bartram. Sie habe sich zudem in den vergangenen vier Jahren durch Grundlagenforschung stark verändert – durch die Entwicklung der Genomchirurgie seien Eingriffe möglich geworden, bei denen Gensequenzen präzise gelöscht werden können. "Das ist eine wissenschaftliche Revolution", betont Bartram und plädiert für mehr Grundlagenforschung. Im Bereich der Humanmedizin seien große Fortschritte durch Gentechnik zu erwarten. Allerdings erinnert Bartram auch an die Hoffnungen, die in den 1980er Jahren mit der Forschung an Virusvektoren und Stammzellen verbunden wurden: "Da waren viele Heilsversprechen unrealistisch", warnt er.
Buch und Rechtschreibfehler
Prof. Dr. Frank Buchholz stellt seinem Vortrag zum wissenschaftlichen Stand der Genomchirurgie hingegen eine – nach seinen Worten – "provokante Prognose" voran. Er ist Molekularbiologe und Professor für Medizinische Systembiologie am Universitätsklinikum Dresden. "In 50 bis 100 Jahren," behauptet Buchholz, "wird die Genomchirurgie genau so verbreitet sein wie heute die herkömmliche Chirurgie." Die herkömmliche Chirurgie habe erst spät durch die anatomische Katalogisierung des menschlichen Körpers Eingang in die Medizin gefunden, im Mittelalter sei sie noch von Badern ausgeübt worden. "Entsprechend ist DNA-Engineering in der Molekularbiologie nicht neu," erläutert Buchholz, "aber erst die vollständige Sequenzierung des humanen Genoms macht es für die Medizin nutzbar." Betrachte man die DNA als "Buch des Lebens", erklärt Buchholz, stoße man in den sechs Milliarden Buchstaben, die einen einzelnen Menschen definieren, auch auf "Rechtschreibfehler", die zu Erkrankungen führen könnten.
Schere und Kleber
Inzwischen seien immer mehr dieser möglichen Gendefekte erforscht, berichtet Prof. Dr. Frank Buchholz: "Deutsche Kinder werden nach der Geburt auf 13 monogenetische Erkrankungen gescreent." Bekannt seien jedoch bereits etwa 8.000. Wenn die genetische Basis von Erkrankungen also bekannt sei, sagt Buchholz, stelle sich immer drängender die Frage nach Möglichkeiten, defekte Gene zu reparieren oder zu deaktivieren. Von den bislang erprobten Werkzeugen der Genomchirurgie stellt er zwei vor: Gen-Scheren, also RNA-gerichtete Nukleasen wie CRISPR-Cas9, die präzise Schnitte im Erbgut erlauben, und Gen-Scheren mit integriertem Kleber, also Rekombinasen wie Bre.1, die gekappte Enden im Erbgut präzise wieder zusammenführen. "In der Krebstherapie könnten diese Werkzeuge irgendwann erlauben, individuelle Medikamente für Patienten zu entwickeln," erläutert Buchholz, "die nur die Krebsgenome präzise herausschneiden."
Tumorzellen und HIV
"Das ist keinesfalls alles Science-Fiction", betont Prof. Dr. Frank Buchholz. Die Technologie hinter CRISPR-Cas9 sei erst wenige Jahre alt und werde bereits in klinischen Studien getestet, die darauf hinarbeiten, Tumorzellen so zu manipulieren, dass sie für das Immunsystem von Patienten wieder angreifbar werden. Auch in der Forschung an HIV-Therapien seien bereits einzelne Studien abgeschlossen, die untersuchen, wie Rezeptoren deaktiviert werden können, die das Virus braucht, um in Zellen einzudringen. "Die Genomchirurgie könnte zudem irgendwann in der Lage sein, das virale Genom in bereits infizierten Zellen so präzise zu zerschneiden, dass das Virus zerstört wird", führt Buchholz aus. Um zu verhindern, dass das Virus bei Reparaturprozessen in der Zelle rekonstruiert wird, könnte die Kombination aus Schere und Kleber in Rekombinasen eingesetzt werden, die eine fehlerfrei Reparatur bereits mit dem Schnitt durchführen. "Das ist aber noch sehr kompliziert", gibt Buchholz zu bedenken. Und prognostiziert dennoch: "Wir könnten so irgendwann die HIV-Infektion in der Zelle heilen."
Grenzen und Regeln
Tatsächlich seien Genehmigungen für eine erste klinische Studie erteilt, freut sich Prof. Dr. Frank Buchholz. Zugleich weist er auf die schwierige Finanzierung hin: "Deutschland kann als Forschungsstandort nur dann führend bleiben, wenn ausreichend investiert wird." Er gibt außerdem zu bedenken, dass alle Fortschritte auch für ethisch bedenkliche Ergebnisse genutzt werden können: "Wir können inzwischen im Buch des Lebens lesen und verstehen ein wenig von seiner Grammatik. Wenn wir nun beginnen, in der Sprache des Lebens auch zu schreiben, ist es eine Herausforderung für die ganze Gesellschaft, über Grenzen und Regeln nachzudenken." Auch Prof. Dr. Claus Bartram hält es zu Beginn der von ihm moderierten Podiumsdiskussion für wichtig, die Bevölkerung in diesen Diskursen mitzunehmen: "Wir dürfen uns als Wissenschaft nicht selbst bespiegeln." Zunächst beginnt er jedoch mit seinen wissenschaftlichen Gästen eine ethisch-juristische Diskussion, in der die Konsequenzen einer Forschung an den dargestellten somatischen Gentherapien (bei denen die Gene nicht weitervererbt werden können) mit denen der Forschung an Keimbahn-Gentherapien (bei denen Gene in Keimzellen eingebracht werden und so auch Nachfolgegenerationen betreffen) verglichen werden.
Verantwortung und Zukunft
Prof. Dr. Jochen Taupitz, Direktor des Instituts für Deutsches, Europäisches und Internationales Medizinrecht, Gesundheitsrecht und Bioethik der Universitäten Heidelberg und Mannheim, verweist zunächst auf das deutsche Embryonenschutzgesetz von 1990. Dieses erlaube Gentechnik an ungeborenem Leben nur in vitro und verurteile Keimbahninterventionen als unverantwortliche Menschenversuche. Allerdings mahnt er an: "Juristen, Politiker und Ethiker sollten hier in die Zukunft blicken – was geschieht, wenn die erforschten Methoden als hinreichend sicher gelten?" Wenn in ferner Zukunft verantwortliche Versuche mit Eingriffen in die Keimbahn möglich seien, müsste Risiken und Nutzen neu abgewogen werden: "Lassen wir das dann nur bei schweren Erbkrankheiten zu? Oder auch für Designerbabies?" Vorbeugung sei auch hier möglicherweise der Heilung vorzuziehen: In einer einzelnen Eizelle sei es einfacher, einen genetischen Defekt auszuschalten, als in allen Zellen eines geborenen Menschen. Taupitz warnt vor einer zu starken Einschränkung von Forschungsmöglichkeiten: "Wir verlieren dann auch unsere Stimme im weltweiten Wissenschaftsdiskurs – auch in Hinblick auf ethische Diskussionen."
Kategorien und Prioritäten
Prof. Dr. Ingrid Schneider, Politologin an der Universität Hamburg und ehemaliges Mitglied der Enquete-Kommission für Recht und Ethik der modernen Medizin vom Deutschen Bundestag, warnt vor einem Rückfall in ein vereinfachtes Modell, das Eingriffe in die Keimbahn tabuisiert und damit alle somatischen Eingriffe legitimiert. Auch die Genom-Chirurgie müsse sich weiter kritisch nach Risiken und Gefahren fragen lassen: "Das sollte nicht vorschnell in klinischen Studien resultieren." Sie sieht zudem einen Grundkonsens in Gefahr, wenn nur noch in Kategorien von Therapie/Prävention und Optimierung diskutiert werde. Sie hält Deutschland außerdem bei der ethischen Diskussion nicht für isoliert: "In mehr als 40 Staaten sind Keimbahn-Gentherapien an Embryonen verboten. In Europa fußt dieser Konsens auf einem wichtigen Wertegerüst." Sie betont auch, dass Forschungsressourcen nicht unbegrenzt zur Verfügung stehen und plädiert bei der Nutzung für klare Prioritäten entsprechend eines konsequenten Verbots von Eingriffen in die Keimbahn.