Was bringt die Wissenschaft voran?
Thesen zum "Farbenstreit" zwischen Newton und Goethe regen lebhafte Diskussion zu Wissenschaftsphilosophie und den Grundlagen der Naturwissenschaften an. Veranstaltungsbericht zum Herrenhäuser Forum der VolkswagenStiftung in Kooperation mit den KunstFestSpielen Herrenhausen am 23. Mai 2016 in Hannover.
Rekonstruktion und Fortschreibung
"Der Streit um Experimente, Interpretationen und Ergebnisse ziert die Wissenschaften." So nimmt Stephan Lohr, erfahrener Hörfunkjournalist und Moderator in Sachen Kultur, ein mögliches Fazit dem ausgesprochen interdisziplinären Herrenhäuser Forum "Mehr Licht. Goethe mit Newton im Streit um die Farben" vorweg. Es gehe den Diskutanten darum, einen wissenschaftshistorischen Prozess zu rekonstruieren und fortzuschreiben. Als "die Wiederbelebung einer Kontroverse zwischen Johann Wolfgang von Goethe und Issac Newton" will auch Thomas Brunotte von der VolkswagenStiftung den Abend verstanden wissen. Das Besondere daran: Als einziger Dichter von Weltruhm habe Goethe es gewagt, mit Newtons Entdeckung der Heterogenität des weißen Lichts eine etablierte naturwissenschaftliche Theorie zu hinterfragen.
Komplexität und Interdisziplinarität
Die daraus resultierende umfangreiche Farbenlehre Goethes sei von Natur- wie von Literaturwissenschaftlern stets als eher ästhetisches Werk abgetan worden, erläutert Brunotte. "Hätte die Wissenschaftsgeschichte anders verlaufen können, wenn Goethes Gegenthesen ernster genommen worden wären?", fragt er unter Hinweis auf die Komplexität der publizierten Experimente und Schlussfolgerungen. Bereits der Physiker und Nobelpreisträger Werner Heisenberg habe geäußert, dass die konsequente Weiterarbeit an Goethes Forschungen eine zugleich wissenschaftliche und künstlerische Begabung erfordert hätte. "Weshalb die Naturwissenschaftler bereits vor 200 Jahren entschieden, an Newtons Erkenntnissen festzuhalten", vermutet Brunotte.
Kunst und Philosophie
Zwei Referenten dieses Herrenhäuser Forums wagen es seit längeren Jahren, Künste, Natur- und Geisteswissenschaften in Goethes Sinn zusammen- und seine Forschungen so weiterzudenken. Prof. Ingo Nussbaumer, der an der
Universität für angewandte Kunst in Wien Malerei lehrt, setzt sich in seiner Kunst, inspiriert durch Goethe, zunehmend mit Farb- und Lichtforschung auseinander. Prof. Dr. Olaf Müller widmet sich im Rahmen seines Schwerpunktes Wissenschaftsphilosophie an der
Humboldt-Universität Berlin ausführlich Goethes Blick auf Newtons Experimente – und auch Nussbaumers Perspektiven auf Goethes Experimente. Er publizierte Ergebnisse seiner Forschung vor einem Jahr in seinem Buch "Mehr Licht: Goethe mit Newton im Streit um die Farben", das er im Rahmen einer
Opus Magnum-Förderung der VolkswagenStiftung erarbeiten konnte.
Experiment und Ikone
Als Basis erläutert Olaf Müller zunächst Isaac Newtons Grundlagenexperiment, bei dem durch eine Öffnung und ein dahinter befestigtes Prisma Licht in einen dunklen Raum fällt. "Das so projizierte Newton-Spektrum aus Regenbogenfarben und Zwischenstufen ist zu einer Ikone der modernen Naturwissenschaften geworden", stellt der Philosoph fest. Newtons These, das weiße Licht der Sonne setze sich aus heterogenem farbigem Licht zusammen, habe dieser durch hundertfache Wiederholung des Experiments für bewiesen gehalten.
Licht und Dunkelheit
Goethe, so Olaf Müller, habe sich etwa 140 Jahre später nicht damit begnügt, dies anzuzweifeln. "Er hat selbst in tausenden Experimenten die äußeren Bedingungen variiert und dabei beispielsweise Licht und Dunkelheit getauscht", erzählt Müller. So werde Newtons Öffnung zu einer Negativschablone, durch die ein Schatten durch das Prisma in einen hell erleuchteten Raum geschickt werde. "Ich dachte zunächst, Goethe lügt, bis ich das Experiment selbst nachvollzog", gesteht Müller, "aber tatsächlich wird in der Projektion ein völlig anderes Spektrum sichtbar." Eines, das den Newtonschen Farben ihre Komplementärfarben gegenüberstellt. Goethe habe nicht nur die These von der Heterogenität der Finsternis Newtons These von der Heterogenität des weißen Lichts gegenübergestellt, sondern zudem behauptet: "Zu jedem prismatischen Experiment aus Newtons Werk Opticks gibt es ein duales Gegenstück."
Zufälle und Kriterien
"Wir haben es mit zwei gleich glaubwürdigen Theorien zu tun", stellt der Berliner Professor fest. Etwa vor 25 Jahren habe dann Ingo Nussbaumer über die Dualität von Schwarz-Weiß-Kontrasten hinausgedacht und Newtons Grundexperiment im Sinne Goethes mit Farbkontrasten nachvollzogen. "Wenn Farben durch ein Prisma in einen ebenfalls farbigen Raum projiziert werden, ergeben sich jeweils eigene Spektren und damit auch weitere in der Optik gleichberechtigte Theorien zur Zusammensetzung von Licht und Farbe", schildert Müller. Die Theorie, die Newton aus seinen Experimenten mit weißem Licht und dunklem Raum entwickelt habe, sei also reiner Zufall gewesen. Eine Frage, die ihn als Wissenschaftsphilosophen dabei besonders interessiere, sei: "Taumelt die Wissenschaft vielleicht eher zufällig auf ihrem Fortschrittspfad voran?"
Bedingungen und Faktoren
Auch Professor Ingo Nussbaumer geht es um einen kritischen Blick auf die äußeren Voraussetzungen für Experimente: "Wenn die spezielle Bedingung des dunklen Raums bei Newtons Experiment nicht erfüllt ist, sehen die Ergebnisse völlig anders aus." Dabei werde die Finsternis seither in der Regel von Physikern als unwirksame Größe betrachtet. Nussbaumer betrachtet sie aber als gleichberechtigten Faktor. "Jede Farbe kann sich wie jede andere verhalten, je nach den äußeren Bedingungen", erläutert er. Als Beleg zeigt er einige seiner in Farbexperimenten gewonnenen "unordentlichen Spektren" und erläutert: "Weißes Licht verhält sich dabei wie farbiges, weiß ist nicht übergeordnet, sondern nur eine der monochromatischen Lichtfarben."
Verantwortung und Realismus
Eine Gegenposition zu Olaf Müllers wissenschaftsphilosophischen Thesen und Ingo Nussbaumers Farbversuchen präsentiert dann Prof. Dr. Hans-Jürgen Steffens in seiner Sicht auf die Entwicklung wissenschaftlicher Theorien. Der Mathematiker, Physiker und Philosoph lehrt Informatik an der
Fachhochschule Kaiserslautern. Er lehnt die Infragestellung der Newtonschen Theorien rigoros ab und fordert: "Wir brauchen mehr Verantwortung für den Fortschritt, nicht nur Verantwortung des Fortschritts." In der Betrachtung von Naturgesetzen bezeichnet er sich als "naiver Realist": Er glaube daran, dass diese gefunden und nicht erfunden werden, und dass sie auch unabhängig von menschlichen Perspektiven unverändert funktionieren.
Nutzen und Preis
"Als Realist und Informatiker frage ich immer nach dem größten Weiterentwicklungspotential", erklärt Prof. Dr. Hans-Jürgen Steffens. Als Physiker wiederum sei er darauf angewiesen, durch Beobachtungen Regeln zu finden und zu formulieren. "Das hat immer auch damit zu tun, dass eine Theorie anwendbar sein, also passen muss", ist er überzeugt. Er erläutert einige physikalische und neurophysiologische Grundlagen der Wahrnehmung von Licht und Farbe, kommt dann aber zum Schluss: "Was wir sehen, ist hinter den Sensoren." Das ändere jedoch nichts an der Bedeutung eines stabilen Theoriekonstruktes für deren Funktionsbedingungen. Schließlich stellt er die für ihn zentralen pragmatischen Fragen: "Was würde ein Infragestellen der Newtonschen Erkenntnisse den Wissenschaften nutzen – und welchen Preis müssten sie dafür bezahlen?"
Sinn und Sinnlichkeit
Pragmatische Einwände von Professor Steffens weiß Wissenschaftsphilosoph Müller immer wieder zu entkräften: "Es gibt Dunkelheit, es gibt Kälte, es gibt negative Impulse – in den 15 Jahren, in denen ich Physiker nerve, ist mir kein einziges Experiment präsentiert worden, das sich nicht im Sinne Goethes umkehren ließe." Die letzte Herausforderung seines Kontrahenten muss er zwar offen lassen, verspricht aber: "Ob sich die Compton-Streuung umkehren lässt? Darüber muss ich nachdenken." Die Veranstaltung endet nicht mit gegeneinander gestellten Hypothesen, sondern mit sinnlicher Erfahrbarkeit. Professor Nussbaumer zeigt in einem Nebenraum einige seiner zentralen Experimente, darunter auch das Goethe-Spektrum. Seine ergebnisoffene, verspielte Herangehensweise wird in zweierlei Funktionen sichtbar: als Teil seiner Kunst und als Grundlage wissenschaftsphilosophischer Annäherungen andererseits.
Thomas Kaestle