Sehnsucht nach den großen Erzählungen

Löst sich die politische Auseinandersetzung in Post-Demokratie und Konsens auf? Oder ist Alternativlosigkeit bei wichtigen Themen gar kein neues Phänomen?
Veranstaltungsbericht zum 16. Forum Politik-Wirtschaft-Gesellschaft in Herrenhausen am 3. Dezember 2014"Wie viel Streit braucht die Demokratie? Über das Verschwinden des Politischen" mit Tina Hildebrandt, Prof. Dr. Dirk Jörke, Dr. Torben Lütjen, Prof. Dr. Paul Nolte und Tanja Busse (Moderation).
Im Tagungszentrum Schloss Herrenhausen diskutierten Experten, wie viel Streit die Demokratie braucht. (Foto: David Carreno Hansen für VolkswagenStiftung)

Vielmehr habe sich der Hang zum Konsens inzwischen bei deutschen Regierungsbildungen durchgesetzt, was zu schwachen Oppositionen führe. "Eine solche Entwicklung zeichnet sich allerdings schon lange ab", berichtete Nolte. Nach dem Ende der großen Ideologien in den 1980er Jahren habe spätestens die Agenda 2010 beim Übergang in die Berliner Republik eine "Politik der generationellen Nachhaltigkeit" als Konsens jenseits von Links-rechts-Gegensätzen etabliert. "Eine fundamentale Ethisierung und moralische Codierung ist meist über jede Zweifel erhaben und hilft der Koalition, sich auch gegen basisdemokratische Ergebnisse durchzusetzen", erklärte Nolte.

Vergleichender Blick in die USA: Polarisierung und Partizipation
Dr. Torben Lütjen

ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Düsseldorf und forscht als Schumpeter-Fellow der VolkswagenStiftung an der ideologischen Polarisierung der USA. Er vermochte im zweiten Impuls das Thema aus der Außenperspektive zu kontextualisieren – und damit zu relativieren: "In den USA versteht keiner die Debatte um das Verschwinden der politischen Streitkultur." Vielmehr werde die politische Situation dort immer militanter. Einerseits lähme die reflexhafte Blockade aller Initiativen aus dem gegnerischen Lager jede Entwicklung. Andererseits herrsche zumindest kein Mangel an alternativen Positionen. "Die Polarisierung führt zu einem Partizipationsschub", erläuterte Lütjen, die Parteien expandierten. Hierdurch werde beim Bürger allerdings nur noch Entschiedenheit belohnt, nicht Differenzierung; es gehe nicht mehr um Information, sondern um Bestätigung festgefügter Meinungen. Wie in einer Echokammer verstärkten sich die eigenen Überzeugungen.

Einen ersten Impulsvortrag hielt Prof. Dr. Paul Nolte, Historiker von der Freien Universität Berlin. (Foto: David Carreno Hansen für VolkswagenStiftung)
Heterogenität und Entscheidungsarmut

Für Tina Hildebrandt, Redakteurin bei der Wochenzeitung DIE ZEIT, entspricht der diskursarme Zustand in Deutschland dem jahrzehntelangen Wunsch der Bevölkerungsmehrheit nach Toleranz und Vielfalt. Die Macht der großen Institutionen, die ihre Positionen autoritär durchgesetzt haben, sei einer Vielzahl kleiner heterogener Erzählungen gewichen – und damit um einen Wettbewerb um das Bestimmen von Diskursen. "Politiker flüchten sich dabei allerdings immer mehr in die Pose des nachdenklichen Fragens und drücken sich um verbindliche Antworten", berichtete Hildebrandt. Die "verwaltende Kanzlerin" Merkel sei das beste Beispiel; eher eine Moderatorin als eine Richtungsentscheiderin und von der Bevölkerung in diese Rolle gewählt. Eine Politik, die wichtige Fragen nach den Ergebnissen von Meinungsumfragen beantworte, rücke möglicherweise tatsächlich in die Nähe einer Postdemokratie, resümierte Hildebrandt.

Veränderungen werden schwieriger
Prof. Dr. Dirk Jörke,

Politikwissenschaftler an der TU Darmstadt, sah einen zentralen Faktor der politischen Frustration in der zunehmenden Entkoppelung von Wahlen und Veränderung. Durch die Bereitschaft zum Konsens bei Koalitionsentscheidungen und die behauptete Alternativlosigkeit einer Reformpolitik zur Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit spätestens seit den 1990er Jahren einerseits und die wachsende Macht zentraler Gremien wie denen der Europäischen Union andererseits, seien gewählte Parteien immer weniger in der Lage, konkrete Erwartungen der Wähler zu erfüllen. Frustrationen seien vorprogrammiert.

Die Bedeutung von Alternativen

In der anschließenden Diskussion fasste Moderatorin Tanja Busse eines der zentralen Themen mit der Abkürzung TINA zusammen: There is no alternative. Die Frustration der Bürger entstehe immer wieder aus dem Gefühl der Alternativlosigkeit und daraus resultierend einem Mangel an aktiven Gestaltungsoptionen. "Wo dann allerdings ernsthafte Alternativen angeboten werden", fügte die Redakteurin Hildebrandt hinzu, "schrecken die Bürger oft vor Unbequemlichkeiten zurück." Aus diesem Grund sei wohl Peer Steinbrück als problematisierender Kanzlerkandidat gegen Merkels "uns geht es doch gut" gescheitert. Und aus demselben Grund seien Parteien wie die AfD mit ihren vermeintlich einfachen Alternativen so erfolgreich.

Um eine weitere Expertenmeinung ergänzte Prof. Dr. Dirk Jörke, Politikwissenschaftler der Technischen Universität Darmstadt, die Runde, der neben der Moderatorin und Journalistin Dr. Tanja Busse Platz genommen hatte. (Foto: David Carreno Hansen für VolkswagenStiftung)

Dr. Torben Lütjen hält dies allerdings für "kurzfristige Erregungszustände", wirkliche Alternativen bräuchten einen langen Atem und es sei fraglich, ob es sich bei (Rechts-)Populismus um eine visionäre Gegenerzählung oder doch eher um eine Triebabfuhr handele. Auch Prof. Dr. Paul Nolte sieht hier ein "Spiel mit dem vermeintlichen Willen des Volkes". Allerdings warnte Prof. Dr. Dirk Jörke vor der Kluft, die entstehe, wenn Eliten das Volk nicht ernst nehmen.

Beteiligung und Motivation als Schritte zu mehr Lebendigkeit?

Im Publikum beherrschte zunächst ein Thema die Diskussion: Auf welche Weise kann eine Bürgerbeteiligung durch direkte Demokratie produktiv zu einer Stärkung von Diskurs und Politik beitragen? Dabei ging es vor allem um das Gemeinwohl in Abgrenzung zu Individualität und Egoismus. Prof. Dr. Paul Nolte warnte vor zu viel direkter Demokratie. Diese führe oft zu verzerrteren Entscheidungen als eine repräsentative Demokratie, in der Minderheiten gezielt berücksichtigt werden können. Tina Hildebrandt forderte hier von der Politik die Offenheit, Bürger anzuhören, aber auch den Mut, klare Entscheidungen zu treffen und dazu zu stehen.

Wie kann es weiter gehen?

Abschließend formulierten alle Gäste einen zusammenfassenden Blick auf Status Quo und mögliche Zukunft des Themas. Dr. Torben Lütjen betonte, dass sich im Nachkriegsdeutschland Polarisierung und Konsens zyklisch abgelöst haben. Selbst Phasen, wie er sie aktuell in den USA beobachte, halte er für "kurzzeitigen Erregungspopulismus". Um noch an langfristige Visionen zu glauben, verändere sich die Welt zu schnell und drastisch.

Als Gast beteiligte sich an der Podiumsdiskussion auch Tina Hildebrandt, die Redakteurin bei der Wochenzeitung DIE ZEIT ist. (Foto: David Carreno Hansen für VolkswagenStiftung)