Migration: "Wir werden viele Flüchtlinge an Hochschulen integrieren"
Interview mit Prof. Dr. Hiltraud Casper-Hehne, Leiterin der Abteilung Interkulturelle Germanistik an der Universität Göttingen, zum Herrenhäuser Symposium "Umbruch durch Migration" vom 16.-17. März 2017 in Hannover.
Erste Erfahrungen und Ergebnisse zeigen: Mittelfristig werden sich viele der Geflüchteten in die akademische Hochschullandschaft gut integrieren, meint
Prof. Dr. Hiltraud Casper-Hehne, Vizepräsidentin für Internationales sowie Leiterin der Abteilung Interkulturelle Germanistik am Philologischen Seminar der Universität Göttingen. Beim
Herrenhäuser Symposium "Deutschland: Umbruch durch Migration – ein Neustart für die Selbstreflexion in Wissenschaft und Demokratie" wird Casper-Hehne die Sektion "Transfer in die Gesellschaft: Modelle guter Praxis aus Schule und Hochschule" leiten. Die Teilnahme ist kostenlos. Christian Jung, Redakteur der VolkswagenStiftung, sprach mit Hiltraud Casper-Hehne darüber, welche Angebote die Universität Göttingen für Flüchtlinge entwickelt hat.
Schulen und Hochschulen haben in Reaktion auf die Flüchtlingswelle vielfältige Projekte entwickelt, mit denen Geflüchteten der Zugang zum hiesigen Bildungssystem erleichtert wird. Auch die Universität Göttingen hat einiges auf die Beine gestellt. Wie sind Ihre Erfahrungen?
Im vergangenen Jahr haben wir 89 Flüchtlinge in unser hausinternes Programm "Integra" aufgenommen. Zunächst einmal mussten wir nach der schnellen Konzeptionierungsphase und dem Start des Programms im Herbst 2015 Geflüchtete mit akademischem Hintergrund in Göttingen aber überhaupt erst einmal finden und kontaktieren. Wir haben eine Task Force für die Region Göttingen eingerichtet und uns mit allen relevanten Institutionen vernetzt. Mittlerweile finden an allen Anlaufstellen für Geflüchtete in Göttingen Interviews zu ihrem Bildungshintergrund und ihren Wünschen für die Zukunft statt. Entsprechend finden immer mehr Bewerberinnen und Bewerber zu uns, mittlerweile sind eben an die hundert Geflüchtete in das Programm Integra aufgenommen – und die Zahlen steigen weiter. Die Geflüchteten werden inklusiv in Kurse mit internationalen Studierenden integriert, um von Anfang an ein Maximum an Integration zu gewährleisten.
Wie sind Sie bei der Konzeptentwicklung vorgegangen?
Wir haben in Göttingen im Spätsommer des vergangenen Jahres die "
Task Force Geflüchtete" eingerichtet, um alle Institutionen an einen Tisch zu bringen, zu vernetzen und gemeinsam die gesellschaftliche Herausforderung der Integration von Geflüchteten anzugehen. Dazu gehören vonseiten der Hochschule Vertreterinnen und Vertreter der Dekanate, des Senats, der Abteilungen Studium und Lehre sowie Göttingen International und des AStA; Professorinnen und Professoren, die zum Bereich Migration forschen und lehren; Studierendeninitiativen – bis hin zum Gebäudemanagement. Externe Teilnehmende sind Forschende der außeruniversitären Einrichtungen am Göttingen Campus, zahlreiche Vertreterinnen und Vertreter der Stadt wie beispielsweise die Sozialdezernentin, der Landkreise, der Volkshochschulen, Migrationszentren und viele andere mehr.
Wenn es darum geht, Flüchtlinge in die Hochschule zu integrieren, wird die Universität Siegen häufig als beispielgebend genannt. Deren Konzept reicht von einer Notunterkunft für geflüchtete Studierende über ein kostenloses Vorstudium, studienbegleitende Sprachkurse und passgenau zugeschnittene Module auch für einzelne Bachelor- und Master-Programme mit dem Ziel, dass sich das Potenzial des Einzelnen zeigen und entfalten kann. Dazu das "Paten-Programm 'Geflüchtete helfen Geflüchteten'"; eine fachliche und sozial-integrative Begleitung bei der Promotion, ein ehrenamtliches Netzwerk an der Hochschule für diese und jene Hilfe und ein von der Hochschulleitung ausgerufener und mit einem Gesamtbudget von 200.000 Euro ausgestatteter Ideenwettbewerb für Studierende. Ein vorbildliches Gesamtkonstrukt, dem doch alle Hochschulen nacheifern könnten?
Es ist zweifelsohne ein beeindruckendes Gesamtpaket. Derartige Aktivitäten sollten alle Hochschulen in Deutschland aufbauen, dazu hat auch die Hochschulrektorenkonferenz, die HRK, aufgerufen und mehrere Arbeitsgruppentreffen organisiert. Gerade die HRK kann hier in der bundesweiten Gestaltung von Maßnahmen zur Unterstützung der Integration eine besondere Rolle spielen. Die Universität Göttingen geht diesen Weg schon seit Längerem und sieht Migration ganz selbstverständlich als Normalfall an. Wir haben uns in dieser Hinsicht schon vor einiger Zeit sehr gut aufgestellt: bieten spezielle Ansprechstellen für Geflüchtete, Gasthörerprogramme mit Sprachcoaches, Sprachkurse, Studienprogramme, Fellowships, ein Service Learning-Angebote für ehrenamtliche Leistungen von über 500 Studierenden, um die Integration von Geflüchteten in der Region zu gestalten, und eine Rechtsberatung für Geflüchtete, die Refugee Law Clinic. Insgesamt haben wir rund eine Million Euro für die Integration von Geflüchteten eingeworben.
Meinen Sie, dass der Hochschulstandort Deutschland diese gelungenen Integrationsbemühungen in Göttingen oder Siegen mittelfristig spüren wird?
Derartige Angebote und Bemühungen, wenn sie qualitativ hochwertig aufgestellt, professionell entwickelt und gut abgestimmt sind, werden mittelfristig viele der Geflüchteten in die akademische Hochschullandschaft gut integrieren. Davon bin ich fest überzeugt. Und das zeigen auch erste Erfahrungen und Ergebnisse.
Stichwort Integration durch Bildung. Der Bildungsökonom Ludger Wößmann schreibt, zwei Drittel der Flüchtlinge aus dem arabischen Raum könnten kaum lesen und schreiben; die Mehrzahl habe eine miserable Schulbildung. Wößmann warnt davor, junge Flüchtlinge in unser Ausbildungswesen zu stecken: Sie würden an der üblichen zwei bis drei Jahre langen Vollausbildung mit hohem Theorieanteil scheitern. Müssen wir unser Aus- und Bildungssystem ändern bzw. braucht es für Flüchtlinge vielleicht einen ganz anderen Einstieg in den deutschen Arbeitsmarkt?
Wir sollten nicht unser Bildungssystem ändern, sondern bessere Übergangs- und Begleitstrukturen aufbauen, die die Integration ins Bildungssystem erleichtern. Vielleicht muss man manchem Flüchtling einen Ausbildungsbegleiter an die Seite stellen; über teilqualifizierende Ausbildungen nachdenken, die stärker die praktischen Fähigkeiten betonen; womöglich bedarf es zeitlich anders eingetakteter Qualifikationen ins hiesige Ausbildungssystem. Explizit für Hochschulen sehe ich als erforderliche Elemente unter anderem Propädeutika oder Tutorien sowie "Buddies" und Begleitveranstaltungen im Ausbildungssystem insgesamt.
Wird nicht in Deutschland bei der Integration von Zugewanderten viel wertvolle Zeit vergeudet: jene Zeitspanne, in der Kinder besonders lernfähig sind? Vieles im Leben entscheidet sich ja über das Beherrschen der Sprache des Landes. Wie schafft man hier gleiche Chancen für Kinder aus jenen Familien, die keinen Wert auf Bildung legen und in denen kein oder wenig Deutsch gesprochen wird?
Mit dem niedersächsischen Projekt "Umbrüche gestalten", an dem acht lehramtsausbildende Hochschulen beteiligt sind, werden künftige Lehramtsstudierende aller Fächer, aller Schulstufen und aller Schultypen darauf vorbereitet, für Schülerinnen und Schüler mit Sprachförderbedarf in allen Fächern einen Unterricht mit Sprachenförderung und -bildung anzubieten. Diese Angebote sind notwendig für unterschiedliche Schülerinnen und Schüler, für deutsche etwa aus bildungsfernen Familien oder Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund. Mit derartigem Unterricht erhalten alle Kinder einen vergleichbaren Start ins Leben. Generell lässt sich festhalten: Allein die Erfolge im Sprachunterricht bei Migrantinnen und Migranten sind enorm. Sie sind hochmotiviert, ihre künftigen Karrieren zu gestalten. Das ist bewundernswert, unter den Rahmenbedingungen, unter denen sie leben.