Macht der Mensch den Unterschied?
Ist die "personalisierte Medizin" ein überschätztes Konzept oder ein Allheilmittel für Patienten und das Gesundheitssystem gleichermaßen?
"Personalisierte Medizin – Zwischen begründeten Hoffnungen und gewagten Versprechen"
Die erste Leopoldina Lecture im Schloss Herrenhausen in Hannover stand ganz im Zeichen von Naturwissenschaften und Gesundheit. Drei Experten auf dem Gebiet der personalisierten Medizin diskutierten intensiv die positiven und negativen Seiten dieses neuen Konzepts: Prof. Dr. Bärbel Friedrich, Vizepräsidentin der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina, Prof. Dr. Heyo Kroemer, Vorstand Forschung und Lehre der Universitätsmedizin Göttingen, und Prof. Dr. Jürgen Schölmerich, Ärztlicher Direktor des Universitätsklinikums Frankfurt. Doch ist das Konzept überhaupt so neu? Wie lassen sich das Für und Wider dieses Ansatzes voneinander abgrenzen? Und was macht die personalisierte Medizin aus? In einer kurzen Einführung in die Thematik gab Prof. Dr. Bärbel Friedrich eine erste Definition: "Personalisierte Medizin ergänzt phänotypische Krankheitsbilder durch molekularbiologische Informationen." Das bedeutet, dass ein Arzt für seine Diagnose sich nicht nur auf das sichtbare Krankheitsbild beschränkt, sondern auch Laboranalysen verschiedener Gewebe, einzelner Moleküle oder Gene anordnet. Die Ergebnisse zieht der Mediziner für die Ausfertigung eines weiteren, ganzheitlichen Behandlungsplans heran. Die personalisierte Medizin bezeichnet also vereinfacht gesagt ein Vorgehen, bei dem modernste Diagnostik sowie eine individuelle Behandlung zum Einsatz kommen.
Moderne Technik treibt neue Konzepte voran
Im ersten Impulsvortrag widmete sich Prof. Dr. Heyo Kroemer zunächst der Frage, warum personalisierte Medizin ausgerechnet jetzt weltweit diskutiert wird. "Was uns treibt, ist die Technologie, die uns heute zur Verfügung steht", berichtete der Pharmakologe. Neue Analyseverfahren führen zur Entwicklung von Hochdurchsatztechnologien, mit denen sich molekularbiologische Untersuchungen im großen Maßstab und in kürzester Zeit vornehmen lassen. Das eröffnet besonders Diagnostikern neue Perspektiven. Und der Trend hin zu personalisierter Medizin setzt sich fort, glaubt Kroemer: "Aus meiner Sicht ist diese Entwicklung unumgänglich und alternativlos. Denn der demografische Wandel führt zu einer Verschiebung von denen, die das Gesundheitssystem finanzieren, hin zu denen, die Leistungen empfangen." Die Folge: Eine Überalterung der Gesellschaft mit immer weniger Beitragszahlern für die Gesundheitskassen schmälert die Ressourcen, die für Behandlungsaufwendungen zur Verfügung stehen. Kroemer erläuterte, wie die personalisierte Medizin dieses Problem lösen kann: Durch die Ergebnisse molekularbiologischer Untersuchungen lassen sich Patienten mit seltenen Erkrankungen oder hohen Risikofaktoren frühzeitig identifizieren. So können Ärzte ihnen präventive medizinische Behandlungen zukommen lassen, bevor eine langwierige und daher kostenintensive Behandlung notwendig wird. In den USA wird dieser Ansatz bereits heute stellenweise intensiv verfolgt. In einigen Kliniken werden Patientendaten sowie Biomaterialien gesammelt und Analysen daran vorgenommen. Das geschieht dort mittels Probensammlungen innerhalb der klinischen Routineversorgung. Der Gebrauch der auf diese und ähnliche Vorgehensweisen erhaltenen Daten für personalisierte medizinische Versorgung ist beispielsweise in der Onkologie, bei der Behandlung von Mukoviszidose aber auch bei großen Volkskrankheiten wie Diabetes möglich. Kroemer unterstützte dieses Vorgehen: "Wir müssen präventiv agieren und individuell behandeln!"
Althergebrachtes nur aufgefrischt?
Prof. Dr. Jürgen Schölmerich erläuterte in seinem Referat zunächst, dass bereits seit Jahrzehnten nach den nur scheinbar neuen Methoden der personalisierten Medizin gearbeitet wird: Seit langem würden Biomarker, also jene biologischen und objektiv messbaren Merkmale wie Enzyme oder Hormone im Körper, bei Untersuchungen für eine Diagnose herangezogen. Das Konzept ist also nicht wirklich neu, sondern wird seit langem praktiziert – wenn auch nicht mit solch hohen Durchsatzraten, wie moderne Technologien dies ermöglichen. In diesem Zusammenhang beleuchtete der Mediziner zudem die ökonomische Seite, die vor allem die Umsatzchancen der Pharmaindustrie betreffen: "Blockbuster-Diagnostik soll heute Blockbuster-Medikation ersetzen, da individuelle Medikamente den Betroffenen nicht verabreicht werden können." Das führe im Endeffekt jedoch zu steigenden Stückkosten bei reduzierten Stückzahlen der Medikationen. Auch die Belastbarkeit solcher Daten, die aufgrund umfassender Analysen etwa von Genen entstehen, stellte Schölmerich in Frage. Denn, erklärt der Mediziner, können bewiesenermaßen zum Beispiel Umweltfaktoren wie Infektionen sowie weitere Einflussgrößen die Effekte, die Gene auf eine Erkrankung haben, vollständig eliminieren. Dadurch eliminieren die äußeren Bedingungen solche Behandlungsvorteile, die die individualisierte Medikation eigentlich hervorbringen soll. "Zudem besteht bei der personalisierten Medizin das Risiko, dass manchen Patienten eine auch bei ihnen wirksame Therapie vorenthalten wird, da ihnen ein Marker fehlt, der in der Theorie vorhanden sein müsste, damit die Therapie wirkt", merkte Schölmerich an. Je multifaktorieller eine Krankheit sei, desto schwieriger sei die Vorhersage von Wirksamkeiten der Medikation. "Ich denke, dass die Welle der personalisierten Medizin wieder abebben wird, wie etwa der Hype um das Mikrobiom", prognostizierte Schölmerich.
Begrenzte Aussagekraft auch großer Datenmengen
In der Podiumsdiskussion, die auf die Vorträge folgte, sah auch Kroemer die Aussagekraft und Auswertungsmöglichkeiten von großflächig gesammelten Daten nicht unkritisch: "Im Vergleich zu Staaten wie Südkorea ist in Deutschland unsere IT auf diesem Gebiet unterentwickelt. Das ist ein Versäumnis der letzten 20 Jahre, welches bei uns flächendeckend vorherrscht." Fast jede Klinik in Deutschland hat ein eigenes Datenbanksystem und nur sehr wenige haben eine eigene Sammlung von Biomaterialien. Dies macht die Vergleichbarkeit der Daten untereinander nahezu unmöglich, was wiederum nur wenig Rückschlüsse für die bestmöglichen Behandlungsansätze sowie präventive Maßnahmen zur Folge hat. In der Organisation dieser Prozesse wurde einiges versäumt, resümierte Kroemer. Und Schölmerich ergänzte abschließend: "Die Hoffnungen der Patienten erfüllen sich trotz eines theoretischen Verständnisses manchmal nicht."
Am Ende der Diskussion waren sich die Podiumsgäste jedoch in einem Punkt alle einig: dass personalisierte Medizin ein unpassender Begriff ist für die Verfahren und Anwendungen dieses Konzepts. Stratifizierte bzw. stratifizierende Medizin träfe am ehesten den Kern. Tina Walsweer