Lecture: Zwischen Hausarzt und Kompetenzteam
Wie kann die Medizin auf Herausforderungen des demografischen Wandels reagieren? Welche Strukturen und Strategien werden älteren Patienten gerecht? Experten diskutierten bei der 9. Leopoldina-Lecture. Veranstaltungsbericht zur 9. Leopoldina-Lecture der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina in Kooperation mit der VolkswagenStiftung am 5. September 2016 in Hannover.
Gewinn und Herausforderung
Die Tragweite des Themas lässt sich mit wenigen Zahlen umreißen. "Die durchschnittliche Lebenserwartung in Deutschland ist in nur 100 Jahren von 40 auf 80 Jahre angewachsen", skizzierte Dr. Henrike Hartmann, Leiterin der Förderabteilung der VolkswagenStiftung, in ihrem Grußwort bei der Leopoldina-Lecture über "Medizinische Bedürfnisse im Alter" den demografischen Wandel. Für das Jahr 2030 rechne die Wissenschaft damit, dass ein Drittel der Bevölkerung über 65 Jahre alt sein werde. Einerseits seien die gewonnenen Lebensjahre mit all den Potenzialen selbstbestimmten Alterns und einem damit verbundenen neuen Lebensgefühl eine begrüßenswerte Entwicklung. "Die interdisziplinäre Aufgabe, über die neuen Herausforderungen für eine angemessene medizinische Versorgung einer immer älteren Bevölkerung nachzudenken, verlangt jedoch nach Gestaltungswillen bei allen Beteiligten", deutete sie die Komplexität des Themas an.
Individualität und Gesellschaft
Für die Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina stünde das Altern mit seinen verschiedenen Implikationen schon seit zehn Jahren ganz oben auf der Agenda, betonte deren Generalsekretärin Prof. Dr. Jutta Schnitzer-Ungefug in ihrer Einführung. "Im Rahmen der wissenschaftsbasierten Politik- und Gesellschaftsberatung durch die Akademie spielt die Frage nach notwendigen Reaktionen darauf eine wesentliche Rolle", führte sie aus. Dabei müsse berücksichtigt werden, dass für jeden der individuelle Prozess des Alterns anders verlaufe. "Die Vorstellungen von der gesellschaftlichen Rolle alter Menschen ist Teil kultureller Entwicklungen", erläuterte Schnitzer-Ungefug. Umso wichtiger sei es, regelmäßig zu prüfen: "Stimmen unsere Bilder vom Alter noch?" Zu den Bedingungen eines guten Lebens gehöre wesentlich auch der Umgang mit Erkrankungen.
Uniklinik und Hausarztpraxis
Prof. Dr. Annette Becker legt großen Wert auf unterschiedliche Perspektiven auf die Frage einer angemessenen medizinischen Versorgung im Alter. Sie ist einerseits Professorin für Allgemeinmedizin an der Philipps Universität Marburg und war Mitglied der Leopoldina-Arbeitsgruppe "Evidenzbasierung der Medizin bei alten Menschen". Andererseits profitiert sie als praktizierende Hausärztin im kleinen Ort Wettenberg bei Gießen vom unmittelbaren Umgang mit den alltäglichen Sorgen älterer Patienten. "Wenn von 1.000 Menschen 800 Symptome einer Krankheit zeigen, gehen 250 davon zu einem Hausarzt. 50 werden an einen Spezialisten verwiesen, acht kommen ins Krankenhaus und einer landet in der Uniklinik", erläuterte sie exemplarisch. Und ergänzte: "Da findet dann die Forschung statt." Das sei keinesfalls repräsentativ, findet Becker, es müsse dringend auch da geforscht werden, wo die meisten Patienten zunächst mit ihren Beschwerden auftauchen.
Toreros und Bergführer
Ein wesentliches Phänomen im Alter seien chronische Erkrankungen, erklärte Prof. Dr. Annette Becker. Da sei keine sogenannte "Torero-Medizin" mit schnellen Heilerfolgen möglich. "Wir sind vielmehr wie Bergführer, die ihre Patienten stetig begleiten müssen", verglich sie. Und fuhr fort: "Zugleich müssen wir sie zu optimalen Managern ihrer eigenen Erkrankungen machen." Im Alter kämen oft viele Diagnosen zusammen. Ab dreien spreche man von "Multimorbidität". Dabei ergäben sich viele Krankheiten als Folge aus bereits vorhandenen. Ein von Becker vorgestellter Beispielpatient ist 85 Jahre alt und hat in 40 Jahren neun Diagnosen und 17 regelmäßig verordnete Medikamente gesammelt. Ab fünf solcher Verschreibungen spreche man von "Polypharmazie". "Die Schwierigkeit liegt dann in Wechsel- und Nebenwirkungen, in notwendigen Absprachen zwischen Ärzten, Krankenhäusern und Notdiensten sowie in komplizierten Einnahmeregeln", erläuterte Becker.
Netzwerk und Vertrauensperson
Prof. Dr. Becker war überzeugt: "Kein Arzt kann mehr alle Probleme seiner älteren Patienten alleine lösen." Vielmehr müssten sich viele Experten fächerübergreifend gemeinsam kümmern und ständig miteinander abstimmen, am besten lokal in Zusammenarbeit mit den Kommunen. "Studien zeigen, dass Patienten eine Vertrauensperson in der Primärversorgung brauchen", ergänzte Becker, "eine solche Kontinuität kann der Hausarzt herstellen." So könne auch eine stabilere Datengrundlage der Behandlungspraxis in der Fläche entstehen: "Hausärztliche Forschungsnetzwerke sind leider sehr aufwendig herzustellen", stellte Becker fest. Hier gelte es, zum Beispiel durch spezifische Forschungsförderung Anreize zu schaffen. Außerdem müssten für die sehr heterogene Patientengruppe neue Methoden und Fragestellungen entwickelt werden.
Lebensqualität und Lebensdauer
Auch Prof. Dr. Cornel Sieber ging auf den Aspekt der Multimorbidität ein. Er ist Chefarzt der Klinik für Allgemeine Innere Medizin und Geriatrie am Krankenhaus der Barmherzigen Brüder in Regensburg und Professor für Innere Medizin und Geriatrie an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Außerdem war er Mitglied der Leopoldina-Arbeitsgruppe "Evidenzbasierung der Medizin bei alten Menschen". "Nicht die Anzahl der Krankheiten führt zum Tod", war Sieber überzeugt, "sondern Einschränkungen funktionaler Art." Mit ihren chronischen Krankheiten hätten hochbetagte Menschen oft gelernt, umzugehen. Einschränkungen bei Aktivitäten des täglichen Lebens wie Aufstehen oder Fortbewegung führten jedoch zu einer großen Verletzlichkeit. "Die Zeit- und Zielperspektiven alter Menschen sind außerdem oft von anderen Prioritäten geprägt als die von jungen", erläuterte Siebert. Lebensqualität und Selbständigkeit im vertrauten Umfeld stehe dabei für manchen über Lebensdauer.
Evidenz und Erfahrung
Die Evidenzbasierte Medizin, in der diagnostische und therapeutische Entscheidungen auf Basis aktueller wissenschaftlicher Erkenntnisse, professioneller Expertisen und der Werte und Präferenzen der Beteiligten getroffen werden, spiele eine wichtige Rolle in der Stellungnahme der Leopoldina-Arbeitsgruppe, führte Prof. Dr. Cornel Sieber aus. Er betonte aber: "Meist kommen ältere Menschen in den entsprechenden Studien gar nicht vor, weil sie medizinisch zu schwierig sind." Deshalb seien die meisten Medikamente nie an betagten Patienten getestet worden, was gerade bei einer Vielzahl verschriebener Präparate die persönlichen Erfahrungen des Arztes und die Präferenzen des Patienten umso wichtiger mache. "Das Thema Altersmedizin ist nicht allzu beliebt, weil es äußerst komplex ist", beklagte Sieber, baute jedoch auf den Einfluss der veröffentlichten Stellungnahme, die auf Bundes- und Europaebene große Beachtung fand. "Das Gesundheitswesen ist allerdings riesig und deshalb träge – wesentliche Dinge darin zu verändern, ist nicht einfach", wusste Sieber.
Patientenkarte und Kontaktzeit
In der Diskussion gingen die Referenten nochmals auf das zentrale Thema der schwierigen Kommunikation zwischen Arzt und Patient, aber auch unter den Medizinern ein. "Zunächst ist die Kommunikationstechnik auf keinem einheitlichen Stand," beklagte Prof. Dr. Cornel Sieber, "da passiert ja sogar noch viel per Fax." Es fehle an zuverlässigen Wegen, geschriebene Informationen schnell abrufen zu können. Sieber sprach sich für eine elektronische Speicherung auf einer Patientenkarte aus: "90 Prozent meiner Patienten kommen über die Notaufnahme in die Klinik. Die haben keinen Arztbrief dabei, oft nicht einmal ihr Hörgerät und ihre Brille. Und oft wurden in der Medikamentenliste handschriftlich Dinge verändert."