Kleine Fächer: "ZukunftMensch" erhält Preis für Wissenschaftskommunikation
Der Medizinethiker Robert Ranisch und die Kulturwissenschaftlerin Julia Diekämper haben mit kreativen Aktionen erkundet, wie Menschen über Genveränderungen urteilen.
Auf YouTube, nicht etwa aus einem Top-Journal wie Nature oder Science, verkündete der chinesische Forscher Dr. He Jiankui im November 2018 eine Sensation: Es seien Zwillingsmädchen auf die Welt gekommen, deren Erbgut er mit dem Verfahren CRISPR-Cas9 so verändert habe, dass die Kinder immun gegen HIV seien.
Die Welt war schockiert. Erstmals war das Erbgut von Menschen im Labor mittels eines gentechnologischen Werkzeugs verändert worden. Mit der sogenannten Keimbahnintervention war ein Tabu gefallen. Der Weg zum genveränderten Menschen schien plötzlich frei.
"Als wir das Forschungsprojekt 'ZukunftMensch' planten, waren gezielte Eingriffe in das Erbgut von menschlichen Embryonen in der Reproduktionsmedizin noch eine theoretische Überlegung", sagt der Philosoph und Medizinethiker Robert Ranisch, der die Forschungsstelle "Ethik der Genom-Editierung" (gefördert durch die Dr. Kurt und Irmgard Meister-Stiftung im Stifterverband) an der Universität Tübingen leitet. "Keimbahn-Eingriffe galten als die letzten roten Linien und stehen nach wie vor in vielen Nationen unter Verbot."
Dürfen wir alles tun, was die Wissenschaft ermöglicht?
Trotzdem, seit der Nachricht aus China ist der Geist aus der Flasche und die Diskussion, Pro und Contra, in vollem Gange. Und natürlich stellt sich die ethische Grundsatzfrage: Dürfen wir alles tun, was die Wissenschaft, etwa die biomedizinische, uns theoretisch ermöglicht?
So hatte die Aktualität Ranisch und seine Kooperationspartnerin, die Kulturwissenschaftlerin Julia Diekämper vom Berliner Museum für Naturkunde, eingeholt, während sie ihr Forschungsprojekt "ZukunftMensch" vom Februar 2018 bis Juli 2020 ausrollten. Gefördert wurden sie von der VolkswagenStiftung in der Initiative "Weltwissen: Strukturelle Förderung Kleiner Fächer", deren Ziel es ist, den Wissensfundus sogenannter Kleiner Fächer einem weiten Publikum zu öffnen.
Ranischs Domäne, die Medizinethik, ist in Deutschland noch nicht sehr lange als Forschungs- und Ausbildungsgebiet an Universitäten etabliert. Das Fach verbindet die Wissensbestände der Lebens- sowie der Geisteswissenschaften und verknüpft die Folgenhaftigkeit der Wissenschaften mit der Lebenswirklichkeit der Bevölkerung.
Medizinethik vermittelt zwischen Forschung und Gesellschaft
"Die Keimbahn-Diskussion macht besonders deutlich, dass wissenschaftliche Fakten nicht für sich allein sprechen. Was gut und was richtig ist, zeigt sich weder unter dem Mikroskop, noch lässt es sich aus einer noch so großen Befragung ableiten", sagt Julia Diekämper, die heute am Aufbau des Wissenscampus für Natur und Gesellschaft beteiligt ist, einem Kooperationsprojekt zwischen dem Museum für Naturkunde und der Humboldt Universität in Berlin. "Ethische Entscheidungsfindung muss in Diskursen erfolgen, die die Öffentlichkeit einbeziehen. Was gilt als natürlich, was als künstlich? Wie verstehen wir uns als Menschen?"
Ranisch sieht dabei die Medizinethik als naheliegenden Mediator, der zwischen biotechnologischen Innovationen und sozial verfestigten Überzeugungen vermittelt. Und das Naturkundemuseum als inspirierenden und authentischen Ort, der Wissenschaft und Gesellschaft miteinander in Kontakt bringt.
ZukunftMensch begab sich also auf eine Expedition, in der es darum ging, Perspektiven einzubringen, Diskussionspotenziale auszuloten, Innovationspotenziale zu erkennen und Wechselwirkungen sowie Zielkonflikte aufzudecken. Ranischs und Diekämpers Ziel: Gemeinsam mit ganz unterschiedlichen Akteuren Herausforderungen durch neue Anwendungen der Gentechnologie zu erkennen, zu bewerten und schließlich verantwortbare Handlungen zu begründen.
Immer wieder im Austausch mit dem Publikum
Um nicht nur diejenigen zu erreichen, die ohnehin ein Interesse und eine Expertise zu Fragen der Bio- und Medizintechnologie besitzen, bedurfte es verschiedener Erzählweisen. Mit den unterschiedlichen Formaten changierten auch die Rollen der Teilnehmenden als Betrachtende, Diskutierende, Beteiligte oder "Experimentierende in eigener Sache". Damit wandelte sich zugleich auch der Wissensfluss: Interventionen in der Dauerausstellung des Museums führten zu einem Workshop und dieser wiederum zu einer Publikumsveranstaltung. Es gab einen Bürgerdialog, eine Schreibwerkstatt, verschiedene Filmabende. Insofern schaute ZukunftMensch nicht nur auf Anwendungsperspektiven möglicher Eingriffe in das menschliche Erbgut, sondern entwickelte auch Überlegungen, wie Wissenschaft mit welchem Ergebnis kommunizieren kann und soll.
Jetzt hat die Universität Tübingen das Forschungsprojekt mit dem Nachwuchspreis für Wissenschaftskommunikation ausgezeichnet. 26 Forscherinnen und Forscher waren nominiert. Verliehen wird der Preis am 2. Juli 2021 während der "Langen Nacht der Wissenschaft" in Tübingen.
Zum Weiterlesen
Ranisch und Diekämper haben eine sehr lesenswerte Broschüre "Der Mensch und seine Natur" und mit der Zeichnerin Sheree Domingo einen Comic produziert, die beide auf der Projektwebsite heruntergeladen werden können: https://www.zukunftmensch.com/.
Hintergrund: Die Förderinitiative Weltwissen
Im Rahmen der Initiative "Weltwissen ‒ Strukturelle Stärkung Kleiner Fächer" fördert die VolkswagenStiftung strukturell unterrepräsentierte Wissensgebiete mit hohem Innovationspotenzial. Jetzt läuft die letzte Ausschreibungsrunde, Stichtag ist der 12. April 2021.
Autor: Jens Rehländer