Kinderlosigkeit: Mittelalterliche Erzählmuster prägen bis heute

Die Problematik, keine Kinder zu bekommen, ist ein Thema, das seit dem Mittelalter nicht an Aktualität verloren hat. Regina Toepfer forscht und lehrt an der TU Braunschweig und untersucht in ihrem Opus Magnum, inwieweit unsere heutigen Vorstellungen von Kinderlosigkeit mittelalterlichen Interpretationen ähneln.

Sind heute rund zehn Prozent aller Paare ungewollt kinderlos, blieben in der Vormoderne ungefähr doppelt so viele ohne Nachwuchs. Prominente Beispiele in der Geschichte sind das deutsche Kaiserpaar Heinrich II. und Kunigunde oder die Stifter des Naumburger Doms, Markgraf Ekkehard II. und seine Ehefrau Uta.

"Manche mittelalterlichen Erzählmuster prägen noch heute unsere Vorstellungen von Kinderlosigkeit. Narrative sind langlebiger als Gesetzestexte und üben unbemerkt Einfluss auf das Denken, Fühlen und Handeln von Menschen aus", betont Regina Toepfer. Die germanistische Mediävistin ist Professorin am Institut für Germanistik der Technischen Universität Braunschweig und hat nun ihr Opus Magnum "Kinderlosigkeit. Ersehnte, verweigerte und bereute Elternschaft im Mittelalter" veröffentlicht. Kinderlosigkeit ist kein biologisches Schicksal, sondern sozial und kulturell konstruiert, so ihre zentrale These.

Anknüpfend an aktuelle Diskussionen über Samenspende, Adoption, Kinderfreiheit und bereute Mutterschaft wird in zwölf Kapiteln dargelegt, wie das Mittelalter heutige Haltungen vorgedacht hat. Zwischen der Theologie, der Medizin, im Recht, in der Dämonologie, der Ethik und in der Erzählliteratur zeichnen sich auffällige Unterschiede ab: Für die einen ist Kinderlosigkeit ein großes Problem, für die anderen ein hohes Ideal. Offengelegt werden so verschiedene Muster, die Geschichten der Kinderlosigkeit bis in die Gegenwart prägen. Ohne die lange Tradition religiöser Geburtswundererzählungen ließe sich zum Beispiel das große Vertrauen von Wunscheltern in die Reproduktionstechnologie kaum verstehen. 

In ihrem Buch fragt Regina Toepfer nach den Begründungsmechanismen für die Ungleichbehandlung von Menschen mit und ohne Kind. Die Studie rekonstruiert, wie Reproduktion zur Norm erklärt und die kinderlose Minderheit von der kinderbesitzenden Mehrheit ausgegrenzt wird. Die gesellschaftliche Kluft zwischen Eltern und Nicht-Eltern lässt sich überwinden, argumentiert sie, wenn die Pluralität und Diversität von Lebensformen stärker berücksichtigt wird. Weder in der Vergangenheit noch in der Gegenwart wollten alle Menschen Kinder bekommen, vielmehr gebe es auch welche, die sich der Reproduktion verweigerten.

Gefördert wurde Prof. Dr. Regina Toepfer im Rahmen der Initiative "Opus Magnum" der VolkswagenStiftung. Ziel des Förderangebots ist es, Professorinnen und Professoren aus den Geistes- und Gesellschaftswissenschaften Freiraum für die intensive Arbeit an einem wissenschaftlichen Werk zu eröffnen. 

Literaturangabe

Regina Toepfer: Kinderlosigkeit. Ersehnte, verweigerte und bereute Elternschaft im Mittelalter. J.B.Metzler, 2020

Kinderlosigkeit ist kein biologisches Schicksal, sondern sozial und kulturell konstruiert, so Regina Toepfers zentrale These. (Foto: J.B. Metzler-Verlag)