Kampf um das selbstbestimmte Subjekt

Wie verhalten sich die technischen Möglichkeiten der digitalen Welt zu ökonomischen und politischen Interessen? Wie viel Freiheit bleibt für den Bürger?
Veranstaltungsbericht zum 31. Herrenhäuser Gespräch von der VolkswagenStiftung und NDR Kultur am 6. März 2015

"Freiheit als Illusion? Unser Leben im Netz" mit Markus Beckedahl, Prof. Dr. Petra Grimm, Yvonne Hofstetter, Prof. Dr. Felix Stalder und Dr. Ulrich Kühn (Moderation).

Sendetermin: 12.04.2015, 20:00 Uhr
NDR Kultur Sonntagsstudio

Das Podium beim Herrenhäuser Gespräch "Freiheit als Illusion? Unser Leben im Netz". (Foto: Vivian Rutsch für VolkswagenStiftung)

In der digitalen Gesellschaft sei er ein Mensch mit Migrationshintergrund. Wie vermutlich die meisten im Saal. So eröffnete Moderator Dr. Ulrich Kühn das Gespräch über Heimatgefühle und Möglichkeiten der Teilhabe in einer vernetzten Welt. "Alle, die nach 1990 geboren wurden, sind dagegen Eingeborene", ergänzte er seine Anspielung auf die so genannten "digital natives", Menschen also, die ein Leben ohne E-Mail, Internet und Social Media gar nicht mehr kennen. So oder so ist es heute nicht mehr möglich, sich diesen Aspekten des Lebens zu entziehen, sie haben längst Eingang in den Alltag gefunden, die meisten Menschen haben sich an neue Möglichkeiten angepasst. Doch wie lässt sich am besten damit leben? Welche Chancen und Risiken bergen sie? Einen Zugewinn an Freiheit und Selbstbestimmung versprechen sie einerseits. Mit deren Verlust drohen sie andererseits. Wird die Welt aus dem Silicon Valley heraus gelenkt? Wie vermeiden wir es als Bürger einer Demokratie, auf bloße Datenbündel reduziert zu werden?

Die Podiumsgäste waren sich vor allem einig darin, ihre Positionen im Spannungsfeld zwischen Utopie und Dystopie zu verorten – oft mit pragmatischer Ergebenheit, öfter jedoch mit deutlichen Forderungen an Politik und Gesellschaft. Der Journalist Markus Beckedahl hat als Gründer und Chefredakteur von www.netzpolitik.org bereits zu Beginn des neuen Jahrtausends begonnen, über die komplexen Zusammenhänge des Digitalen zu bloggen. Ihm geht es immer wieder um Möglichkeiten, die sich verändernde Welt und ihre Regeln mitzugestalten: "Wir müssen uns in die Debatten einbringen und neue beginnen - viele werden noch gar nicht geführt." Um den Umgang mit Erwartungen geht es Prof. Dr. Petra Grimm, Medienwissenschaftlerin am Institut für Digitale Ethik der Hochschule der Medien in Stuttgart. "Den Ideen von grenzenloser Kommunikation, unendlichem Wissen und einer Weltgesellschaft steht das Erleben einer Fragmentierung entgegen", erläutert sie. Google, Facebook und Co. sieht sie als soziale Blasen, in denen keine primären zwischenmenschlichen Erfahrungen mehr gemacht werden können.

Der Moderator Dr. Ulrich Kühn befragte unter anderem Prof. Dr. Petra Grimm, Medienwissenschaftlerin am Institut für Digitale Ethik der Hochschule der Medien in Stuttgart. (Foto: Vivian Rutsch für VolkswagenStiftung)
Prof. Dr. Felix Stalder

relativiert dies: "Erfahrungen wurden schon immer kulturell vermittelt und verhandelt." Lediglich die Mittel seien heute andere. Vielmehr mache er sich Sorgen um eine Konzentration von Macht: "Die Kategorien unseres Lebens werden von wenigen Konzernen geregelt, die in den sozialen Medien zum Beispiel auch unsere Sprache prägen." Das Ergebnis sei eine Ökonomisierung von Ausdruck und Erleben. Yvonne Hofstetter, Geschäftsführerin der Teramark Technologies GmbH, weist auf den Aspekt der Rückkopplung in digitaler Kommunikation hin. Alles Veröffentlichte werde sofort über Feedback beeinflusst. Dieses Prinzip der Steuerung und Regelung kenne die automatisierte Industrie schon seit den 1950er Jahren – durch eine Übertragung auf unseren Alltag würden wir jedoch zumindest teilweise als Objekte zum Teil der Maschinenwelt: "Wir benutzen Smartphones wie eine zusätzliche Extremität."

Prof. Dr. Felix Stalder machte sich Sorgen um eine Konzentration von Macht bei einigen wenigen Konzernen. (Foto: Vivian Rutsch für VolkswagenStiftung)

Prof. Dr. Petra Grimm bedient sich einer historischen Position, um Risiken im digitalen Zeitalter zu verdeutlichen: "Bei Immanuel Kant steht der Warencharakter der Menschenwürde entgegen." Durch eine kleine Zahl großer Konzerne werde die Menschheit zunehmend kapitalisiert. Hierdurch stehe ihr Subjektcharakter in Frage. Yvonne Hofstetter untermauert dies durch einen Exkurs in ihr Tagesgeschäft. Seit 17 Jahren forsche sie mit ihrem Team an künstlicher Intelligenz. Der Hauptnutzen des Internet sei dabei die Kommunikation zwischen Maschinen. "Der Mensch ist eher ein Kollateralnutzer", erklärt sie, "lernende Maschinen mit übermenschlichen Eigenschaften übernehmen immer mehr Entscheidungen." Sie unterscheidet "good big data" in Prozessen, in denen Maschinen andere Maschinen steuern, von "bad big data" in solchen, in denen Menschen beeinflusst werden. Und wird sehr deutlich: "Ethik und Moral in der Wirtschaft werden mit dem Subjekt verschwinden."

Yvonne Hofstetter sagte, dass in der digitalen Kommunikation alles Veröffentlichte sofort über Feedback beeinflusst werde. (Foto: Vivian Rutsch für VolkswagenStiftung)

Prof. Dr. Felix Stalder sieht den Ausweg aus solchen Entwicklungen in einer klaren Unterscheidung zwischen technologischen Bedingungen und politisch-ökonomischen. Eine zentralisierte Kontrolle sei nicht zwingend, erläutert er, "andere Gesellschaftssysteme sind denkbar". Auch Prof. Dr. Petra Grimm fordert "kooperative Wertesysteme, in denen Ökonomie nicht an erster Stelle steht". Stalder hält die Bevorzugung von Individualisierung vor Kollektivmechanismen allerdings für ein politisches Programm. "Es ist an andere politische Programme anschlussfähig", proklamiert er, "damit lässt sich viel Geld verdienen." Yvonne Hofstetter pflichtet ihm bei: "Die Ökonomisierung von Wissen verschiebt Macht in die Privatwirtschaft." Dass solche Prozesse mit politischem Willen gestoppt werden können, habe die Regierung der USA bei der Zerschlagung von Ölkartellen gezeigt. Hofstetter weist darauf hin, in den USA und Großbritannien sei das Internet unlängst als systemrelevante Ressource eingestuft worden: "Der Staat muss eine geschützte Nutzung garantieren, wir müssen das einfordern!"

Bereits ein sechsstelliger Betrag würde ausreichen, so Markus Beckedahl, endlich eine zuverlässige und einfach zu bedienende Mail-Verschlüsselung zu entwickeln. Mit einem Open-source-Projekt, an dem Wissenschaftler kollektiv arbeiten – und ehrenamtlich. Es sei auch an der Zeit, "das öffentlich-rechtliche System neu zu denken", in dem bereits vor 60 Jahren eine größtmögliche Medienvielfalt gefordert worden sei. Ein kleiner Teil der Gebühren könne schon ausreichen, neue, dezentrale Systeme für das Internet zu entwickeln, so Beckedahl. Er ist sich mit Prof. Dr. Felix Stalder einig, dass wissenschaftliche Erkenntnisse für alle öffentlich und nutzbar sein sollten. Eine solche Gemeinwohlorientierung unterscheide Open-Source-Projekte von Staat und Privatwirtschaft, so Stalder. Er sei überzeugt, die Politik verweigere Open-Source-Projekten bewusst die Förderung: "Sie können verbreiten, koordinieren und zu einer kritischen Masse zu vernetzen – es ist aber gar nicht erwünscht, dass sich Bürger selbstbestimmt artikulieren." Dabei meine er nicht die ungezählten Meinungsäußerungen, die das Internet überschwemmen, sondern "eine Artikulationsfähigkeit, die an Entscheidungsfähigkeit gekoppelt ist, also eine direkte und dezentrale Partizipation zulässt".

Markus Beckedahl fordert, dass das das öffentlich-rechtliche System neu gedacht werden muss. (Foto: Vivian Rutsch für VolkswagenStiftung)

Yvonne Hofstetter sieht Handlungsbedarf auch bei den technischen Voraussetzungen. Deutschland und Europa seien bei digitalen Schlüsseltechnologien so weit zurück geblieben, dass man diese nun aus den USA importieren müsse. Hofstetter glaubt: "Eine eigenständige digitale Infrastruktur zur Sicherung der Grundrechte wäre möglich." Auch Prof. Dr. Petra Grimm sieht die Freiheit im digitalen System "auf Dauer nur durch die Unabhängigkeit von den Global Players garantiert". Markus Beckedahls Ideal wäre, dass jeder über die Formen seiner Nutzung selbst entscheiden kann. Für solche Entscheidungen fehle es häufig an Wissen und Medienkompetenz, gibt Prof. Dr. Petra Grimm zu bedenken: "Wir brauchen mehr Aufklärung, mehr Raum, das Thema zu diskutieren und zu vermitteln." Beckedahl appelliert abschließend, für ein selbstbestimmtes Leben aktiv einzutreten: "Wir müssen unsere Rechte einfordern, sonst verhandeln andere über die Regeln des Spiels." Da passt das Thema des nächsten Herrenhäuser Gesprächs am 28. Mai ganz hervorragend: "Gegen den Strich - von der Notwendigkeit zivilen Ungehorsams" Bericht von Thomas Kaestle

Nach der Diskussion klang der Abend im Foyer des Auditoriums aus. (Foto: Vivian Rutsch für VolkswagenStiftung)

Hintergrund: Herrenhäuser Gespräche

Mit den Herrenhäuser Gesprächen präsentieren die VolkswagenStiftung und NDR Kultur aktuelle Themen aus Wissenschaft und Kultur, die unsere Gesellschaft bewegen. Ganz im Sinne von Gottfried Wilhelm Leibniz positioniert sich Herrenhausen damit als ein Ort des intellektuellen Diskurses, der weit über die Grenzen der Stadt Hannover hinaus eine breite Öffentlichkeit zum Mit- und Nachdenken anregt.