Gut beraten? Über Ratlosigkeit und Ratgeber in der Politik
Schon immer haben Politikberater versucht, ganz oben mitzumischen. Wie gewinnen sie die Entscheider für sich? Welchen Einfluss haben sie auf die Mächtigen? Ganz nahe am Regierungszentrum in Berlin und mit weiter historischer Perspektive erforscht Felix Wassermann, wie politische Ratlosigkeit und Politikberatung zusammenhängen – im Rahmen der Initiative "Originalitätsverdacht?".
Irgendwann im Jahr 1513 sah Niccolò Machiavelli wieder einmal vom Garten seines Landgutes in Sant' Andrea am Horizont die Türme und Kuppeln von Florenz schimmern – die Silhouette des Machtzentrums, aus dem man ihn verbannt hatte. Ihn, den Staatssekretär und überzeugten Republikaner, hatte der nach Florenz zurückgekehrte Medici-Fürst seiner Ämter enthoben und ins Exil geschickt. Und hier quälte Machiavelli nun fortwährend die Frage, wie er wieder politischen Einfluss gewinnen könnte. Schließlich die Lösung! Ein von ihm verfasster Ratgeber würde zeigen, wie man als Herrschender in einem feindlichen politischen Umfeld seine Macht erhalten und vermehren kann. Machiavelli zog sich in seine Kammer zurück und schrieb "Il Principe" ("Der Fürst").
Mit diesem Werk ist es dem großen italienischen Staatsdenker zwar nicht gelungen, den Machthaber für sich zu gewinnen, "es hat aber Machiavellis Ruhm als der Berater der Renaissance begründet.", sagt Dr. phil. Felix Wassermann. Der 40-Jährige ist Politikwissenschaftler am Institut für Sozialwissenschaften der Humboldt-Universität zu Berlin und erforscht, wie sich Politikberatung von der Antike über die Renaissance bis ins 20. und 21. Jahrhundert gewandelt hat. Machiavellis Schrift ist für ihn eine wichtige Quelle, denn sie belegt exemplarisch, was sich auch in anderen historischen Texten immer wieder zeigt: Als allererste Aufgabe sehen es Politikberater an, politische Ratlosigkeit zu proklamieren. Guter Rat tut not, sagen sie; denn die Herausforderungen der Zeit lassen sich mit dem bisherigen Wissen und bekannten Konzepten nicht mehr bewältigen.
Wassermann will in seinem Projekt der Ratlosigkeit selbst auf den Grund gehen. Woher kommt sie? Was steckt dahinter, dass Politikberater aller Zeiten sie ausrufen? Und wie gehen die Berater dabei rhetorisch vor? Dazu hat er neben Machiavellis Werk beispielsweise die antiken Fürstenspiegel von Xenophon und Isokrates unter die Lupe genommen sowie die Beratungstraktate des englischen Philosophen und Staatsmanns Francis Bacon ausgewertet. Aus jüngerer Zeit bezieht er die Ratschläge des 2012 verstorbenen deutschen Gelehrten Wilhelm Hennis mit ein. Es geht ihm um eine Politikwissenschaft, die auf die Ideengeschichte zurückgreift – und gleichzeitig Orientierung für das Hier und Jetzt bietet.
Schließlich herrscht auch im 21. Jahrhundert in Politik und Gesellschaft große Ratlosigkeit: Was können wir tun gegen asymmetrische Kriege und politische Instabilität, wie gehen wir mit der Veränderung aller Lebensbereiche durch die Digitalisierung um? Umbrüche und Zeiten der Unsicherheit hat es immer wieder gegeben. Dass sie in fast jeder Epoche und jeder Gesellschaft als außergewöhnlich schwierig empfunden wurden, daran haben auch die Politikberater ihren Anteil, meint Felix Wassermann. Denn sie sind es, die Veränderungen häufig als schwierig, sogar bedrohlich darstellen. "Damit wollen sie sich vor allem auch den Zugang zur Macht sichern", sagt der Wissenschaftler.
Wassermann erkennt hierin "das Prinzip der Ratlosigkeit": Möglichst laut und öffentlichkeitswirksam rufen die Berater die große Ratlosigkeit der Gesellschaft aus, in Vorträgen, Büchern, Artikeln und Online-Medien. Oder sie wenden sich direkt an die Herrschenden, so wie Machiavelli, der sein Rat-Büchlein Lorenzo de’ Medici widmete. Sie verweisen auf schier unlösbare Herausforderungen – um sich dann selbst als Experten und Heilsbringer ins Spiel zu bringen, als alternativlose Option, diese Probleme zu lösen, mit neuem Wissen und neuen Strategien. "Das ist ihre einzige Chance, Aufmerksamkeit für sich und ihre Ideen zu generieren – und Entscheidungsträger von sich zu überzeugen. Nur wer neue Ratschläge gegen die Ratlosigkeit verspricht, wird auch gehört", erklärt Wassermann.
Sind Berater also per se schlecht, weil sie versuchen, Einfluss zu nehmen, ohne dazu legitimiert zu sein? Sind sie gut, wenn sie dabei das Wohl der Gesellschaft im Blick haben? Brauchen wir eigentlich gar keine Berater, weil sie unsere Ratlosigkeit ja erst konstruieren? Einfache Antworten darauf gibt es nicht. "Zumindest brauchen wir keine Berater, die die Probleme ihrer Zeit für unlösbar erklären und dann doch schnelle Lösungen präsentieren." Wassermann empfiehlt, skeptisch gegenüber übertriebener Ratlosigkeit und kritisch gegenüber Beratern zu sein, die sich als Wundertäter präsentieren. Ratlosigkeit sei ein ganz normales und zudem sehr demokratisches Phänomen einer sich wandelnden Gesellschaft: "Sie ist nicht mehr und nicht weniger als das Fragezeichen, das am Anfang jeder notwendigen Debatte darüber steht, wie sich eine Gesellschaft in der Zukunft ordnen will", sagt der Wissenschaftler.
Am Ende seiner Forschungsarbeit steht – wie in der Initiative Originalitätsverdacht üblich – ein Essay. Unter dem Titel "Was tun? Eine Theorie politischer Ratlosigkeit" wird Felix Wassermann die Ergebnisse seiner 'Ratsuche' bei den Ratgebern unterschiedlicher Zeiten veröffentlichen. Im besten Fall könnte daraus ein moderner "Principe" werden – diesmal ein Beraterbüchlein für Berater. Und vielleicht trägt es sogar dazu bei, dass Politik und Gesellschaft den Herausforderungen der Gegenwart ein wenig gelassener begegnen.
Autorin: Marion Koch
Den Artikel über das Projekt von Felix Wassermann finden Sie auch in unserem Magazin "Impulse", Ausgabe 2019. Das komplette Heft mit weiteren Artikeln zu "Querdenkern" gibt es zum Download oder zum Bestellen unter "Impulse-Magazin 2019: Neuland entdecken".
Mit diesem Angebot ermutigt die VolkswagenStiftung Geistes- und Kulturwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler, Vorhaben mit erkenntnisgewinnender Originalität zu entwickeln. Nächster Stichtag: 13. November 2019, weitere Informationen unter "Originalitätsverdacht? Neue Optionen für die Geistes- und Kulturwissenschaften"