Grundsätzliche Vertrauenskrise oder nur gesunde Skepsis?
"Vertrauen - Unsere Sehnsucht nach Gewissheit" mit Prof. em. Dr. Friedrich Wilhelm Graf, Prof. Dr. Guido Möllering, Prof. Dr. Martin Schweer, Prof. Dr. Nora Szech und Dr. Ulrich Kühn (Moderation).
Eine Aufzeichnung dieser Veranstaltung hören Sie am 2. April 2017 um 20 Uhr im NDR Kultur Sonntagsstudio.
Suche und Konstruktion
Eine schnelle Online-Suche nach dem Schlagwort "Vertrauen" führt zu folgenden Zusammenhängen, in denen der Begriff vorrangig eine Rolle spielt: Partnerschaft, Geschäftsleben und Politik. Außerdem sind offenbar Ratgeber beliebt, wie sich Vertrauen lernen lasse und wie es zurück zu gewinnen sei. Gleich einer der ersten Treffer führt allerdings auch vor Augen, dass sich das Thema bei näherem Hinsehen als viel komplexer entpuppen könnte. US-Präsident Donald Trump habe seinem wegen möglicher Falschaussagen in die Kritik gekommenen Justizminister Jeff Sessions das Vertrauen ausgesprochen, melden verschiedene Zeitungen am Tag der Suche. Je nach Blick auf die US-amerikanische Politik lässt eine solche Meldung ganz unterschiedliche Rückschlüsse zu. Vertrauen scheint kein absoluter Wert zu sein, sondern in seiner Bedeutung abhängig von Beteiligten, Kontexten, Absichten oder Strategien. Es bedingt möglicherweise nicht nur Aufrichtigkeit und kann auch als Konstruktion auftreten.
Verlässlichkeit und Verunsicherung
Angesichts zunehmend hinterfragter Wertigkeiten von Religion, Wirtschaft, Politik, Medien und sozialen Netzwerken wird häufig ein allgemeiner Vertrauensverlust behauptet. "Wie können wir heute noch verlässliches Wissen erlangen?", fragt auch Katja Ebeling von der VolkswagenStiftung in ihrer Begrüßung. Die Verunsicherung betreffe auch die Rolle von Wissenschaftlern als glaubwürdige Experten. Auf dem Podium der Veranstaltung diskutieren dann vier Experten aus drei zentralen Disziplinen der Vertrauensforschung: der Religionswissenschaft, der Ökonomie und der Psychologie. Moderator Dr. Ulrich Kühn vom Kooperationspartner NDR Kultur kündigt an, sich dem Phänomen Vertrauen in drei Schritten annähern zu wollen: Auf den Versuch einer Definition folge die Frage nach Bedingungen und schließlich ein Ausblick auf die zukünftige Bedeutung für Wissenschaft und Gesellschaft.
Religion und Sozialmoral
Prof. em. Dr. Friedrich Wilhelm Graflehrte bis zu seiner Emeritierung Systematische Theologie und Ethik an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Auf dem Podium warnt er davor, Vertrauen und Misstrauen gegeneinander auszuspielen: "Zweifel, Skepsis und ein zweiter Blick sind nicht nur schlecht, sondern oft produktiv." Über solche Details hinaus sei jedoch ein grundsätzliches Vertrauen von großem Wert. Schließlich sei der Begriff aus religiösen und moralischen Diskursen in die klassische Ökonomie übernommen worden. "Religiöses Schöpfungsvertrauen bietet die Grundstruktur einer Welt, auf die wir uns verlassen können", erläutert er und nennt ein Beispiel: "Wir wissen, dass die Sonne am nächsten Morgen wieder aufgehen wird." Solche nicht rationalen Grundannahmen erleichterten auch das Geschäftemachen. Graf ist sicher: "Vertrauen ist eine sozialmoralische Voraussetzung, die in religiös geprägten Gemeinschaften selbstverständlicher ist - ein frommer Puritaner erscheint verlässlicher."
Verlust und Komplexität
Gottvertrauen entstehe letztlich durch das Erleben von Regelmäßigkeiten, so der Theologe. "Auch nicht religiöse Instanzen haben versucht, durch Bezug darauf an Autorität zu gewinnen", sagt er und nennt als Beispiele den König "von Gottes Gnaden" oder die Worte "In God We Trust" auf der Dollarnote. Gottvertrauen als Basis zu nutzen sei in der Moderne schwieriger geworden. "Dennoch glaube ich nicht, dass die Welt heute von Vertrauensverlust geprägt ist", betont Graf und verweist auf das quasi-religiöse Vertrauen, das zum Beispiel das Bundesverfassungsgericht als staatliche Institution genieße. Gerade die moderne Gesellschaft benötige deutlich mehr Vertrauen, da viele Funktionsweisen und Zusammenhänge stets komplexer würden. Allerdings müsse der Inhaber einer Machtposition seine Vertrauenswürdigkeit regelmäßig beweisen. "Zwar wurde der Grund für die Kirchenaustrittswelle nie empirisch untersucht", so Graf, "aber die Menschen sind sensibler geworden, sie messen die Kirchen an deren eigenen moralischen Maßstäben." Die oft simpel formulierte christliche Sozialmoral biete wohl vielen Unzufriedenen nicht mehr genug Vertrauensbasis in einer komplexen Welt.
Krisen und Kapital
Prof. Dr. Guido Mölleringist Direktor des Reinhard-Mohn-Instituts für Unternehmensführung an der Universität Witten-Herdecke. Gemeinsam mit Prof. Dr. Nora Szech, die Politische Ökonomie am Karlsruher Institut für Technologie lehrt, vertritt er auf dem Podium die Wirtschaftswissenschaften. "Die Diskussion um angebliche Vertrauenskrisen wird oft zu hysterisch geführt", findet Möllering. Die Umfragewerte für das Vertrauen in politische und gesellschaftliche Institutionen seien in einer dynamischen Bewegung: "Es gilt, zu differenzieren, welche Werte beunruhigend sind und welche wir ignorieren sollten", folgert er. Vertrauen sei eine Grundlage der Marktwirtschaft, in der sich nicht alles kalkulieren ließe. Es werde durch Zugehörigkeit und Gemeinschaft erzeugt - ohne die Offenheit für Fremdes jedoch sei ökonomisches Wachstum begrenzt: "Dieser Widerspruch lässt sich in modernen Gesellschaften nicht leicht auflösen." Szech weist auf die Rolle von Bildung hin, Humankapital habe aber noch viele weitere Aspekte. "Nicht alle wurden bislang ausreichend thematisiert", sagt sie.
Perspektiven und Freiräume
Als Grundlage für Vertrauensbildung nennt Prof. Dr. Guido Möllering einen langfristigen Horizont. Gerade in der Wirtschaft sei es wesentlich, mit einer Zukunftsperspektive zusammenzuarbeiten: "Das erleichtert Prinzipientreue, Wertschätzung, Ernsthaftigkeit und das Erarbeiten von Kompetenzen." Zudem erlaube Langfristigkeit auch, trotz Rückschlägen weiterhin Vertrauensbereitschaft zu zeigen. Ein Kern von Vertrauensbildung sei zudem die Fähigkeit, Unsicherheiten auszuhalten. Möllering: "Wenn ich absolute Gewissheit erwarte, brauche ich kein Vertrauen mehr." Er warnt davor, zeitweise Verunsicherungen mit grundlegendem Vertrauensverlust gleichzusetzen. "Eine gewisse Skepsis gegenüber der Wirtschaft ist natürlich angezeigt," erläutert er, "denn Unternehmen verfolgen - bei aller gesellschaftlichen Verantwortung und Einbettung - ja auch ihre eigenen Interessen."
Ethos und Pathos
In Umfragen müsse jedoch die Vertrauenswürdigkeit der entsprechenden Unternehmen und Institutionen von der Vertrauensbereitschaft der Befragten unterschieden werden, so Prof. Dr. Guido Möllering: "Für beide kann es unterschiedliche Ursachen geben." Als Beispiel nennt er Brexit und Rechtspopulismus, die zu einer Zeit kämen, in der das Vertrauen in nationale Parlamente laut Umfragen geringer sei als das in die Europäische Union: "Wir haben es also mit der Paradoxie zu tun, dass zeitgleich mit dem Nationalismus eine Skepsis gegenüber der Kompetenz von Nationalstaaten wächst." Oft seien rationale Argumente in solchen Situationen nicht ausschlaggebend. Möllering erläutert: "Kaltes Vertrauen reicht nicht aus, Kommunikation muss immer auch emotional aufgeladen sein." Schon im antiken Griechenland sei die Formel verbreitet gewesen, Glaubwürdigkeit ergebe sich aus der Verbindung von Ethos und Pathos.
Ergebnisse und Unzufriedenheit
Prof. Dr. Nora Szech warnt davor, Unterstützer von Populismus einfach als schlecht informiert oder manipuliert abzuklassifizieren: "Unzufriedenheit kann eine starke, langsam gewachsene Basis mit vielen verschiedenen Quellen bilden." Vertrauen in Regierungen oder Institutionen funktioniere nur, so lange deren Reputation das stütze. "Man kann sich nicht beliebig oft mit positiven Botschaften vor die Menschen stellen", betont Szech. Vertrauen brauche hin und wieder auch gute Ergebnisse. "Wenn es nicht mehr gut läuft," sagt sie, "ist Misstrauen in bestimmte Systeme ja vielleicht auch angebracht." In der Finanzkrise hätten zum Beispiel viele Bürger feststellen müssen, dass sie ihren Bankberatern zu sehr vertrauten, nur weil sie sie oft schon lange kannten. "Nach so einer Ernüchterung ist Vertrauen vielleicht auch fehl am Platz", resümiert Szech. Sowohl Vertrauen als auch Vertrauenswürdigkeit seien zudem immer auch persönlichkeitsbedingt.
Risiko und Chance
Prof. Dr. Martin Schweerlehrt Pädagogische Psychologie an der Universität Vechta und leitet dort das Zentrum für Vertrauensforschung. Er bekennt: "Nach langjähriger Forschung bin ich überzeugt, dass es eine lohnenswerte Investition ist, immer wieder Vertrauen zu riskieren." Schließlich berge das Wagnis die Chance, durch positive Erfahrungen bestärkt zu werden. In sozialen Austauschprozessen bilde sich Vertrauen Schritt für Schritt durch Reaktionen des Gegenübers, so Schweer. Schon frühkindliche Erlebnisse seien dabei prägend: "Kinder brauchen ein Umfeld, in dem sie sich sicher und geborgen fühlen können." Dies gelte nicht nur für das Elternhaus, sondern auch für Kindergarten und Schule. Schweer betont: "Dabei ist vor allem Wertschätzung vertrauensfördernd." Eine positive Persönlichkeit baue auf ihr Selbstvertrauen, um auch später immer wieder Risiken einzugehen und auch Rückschläge zu verkraften. Die Ressource Vertrauen sei fast unverzichtbar im Zusammenleben: "Wenn ich niemandem mehr vertraue, habe ich ein großes Problem."
Subjektivität und Kritikfähigkeit
Kinder lernten in langfristigen Beziehungen, welche Kriterien ein vertrauenswürdiger Mensch für sie haben sollte, so Prof. Dr. Martin Schweer. Solche Erwartungen seien immer subjektiv, aber wesentlich für einen beständigen Abgleich in Alltagssituationen: "So haben wir eine individuell geprägte Vorstellung davon, wen wir auf einer Zugfahrt bitten würden, kurz auf unseren Koffer aufzupassen." Vertrauen bedeute zwangsläufig auch, dessen möglichen Missbrauch im Blick zu haben. "Einen solchen kritischen Blick aufrecht zu erhalten ist jedoch anstrengend," erklärt Schweer, "wir müssen bereits Kinder und Jugendliche dazu erziehen." Einfache Lösungen und Antworten seien leider verlockend für die meisten Menschen. Erst durch die richtige Kombination von Vertrauen und Kritikfähigkeit könne man ihnen widerstehen. Für ein langfristiges Vertrauen in Institutionen und Menschen mit der Aufgabe, gute Voraussetzungen für unser gesellschaftliches Leben zu schaffen, sei es wichtig, dass ein System Korrektive enthalte, die in der Lage sind, Fehlentscheidungen aufzufangen, betont Schweer: "Solche Grundlagen dürfen nicht von einer einzigen Instanz abhängen."
Wissenschaft und Vertrauensgewinn
Auch Prof. em. Dr. Friedrich Wilhelm Graf warnt vor einfachen Lösungen, vor allem wenn es darum geht, das Vertrauen in die Wissenschaft wieder zu stärken: "Moralbezogene Konflikte haben mit der Erweiterung wissenschaftlicher Handlungsmöglichkeiten zugenommen - wir sind inzwischen in der Lage, in Anfang und Ende menschlichen Lebens einzugreifen." Er betont: "Diese Themen nicht als so komplex darzustellen wie sie sind, wäre unmoralisch." Prof. Dr. Martin Schweer begreift dies sogar als Bildungsauftrag: "Wir müssen jungen Menschen vermitteln, dass sich die Beschäftigung mit Komplexität lohnt." Gerade in einer Zeit, in der Populisten versuchten, die Grenzen zwischen Lügen und Fakten zu verwischen, gelte es, mit einem Bekenntnis zur Komplexität dagegen zu halten. Prof. Dr. Nora Szech fordert von der Wissenschaft, so zu kommunizieren, dass Menschen die Lust verspürten, zuzuhören und nachzudenken. Prof. Dr. Guido Möllering erwartet zum einen, dass wissenschaftlicher Vertrauensmissbrauch und Fehlverhalten konsequent öffentlich geahndet werden. Zum anderen wünscht er sich Dialogbereitschaft seitens der Wissenschaft: "Wir müssen Anregungen aus der Gesellschaft aufnehmen, aber dabei unsere Identität als Forscher bewahren." In der Vermittlung solle Wissenschaft durchaus mehr Emotionen erzeugen, so Möllering. "Aber wir dürfen uns nicht lächerlich machen."
Fordern und Fördern
Dr. Ulrich Kühn schließt das Podium mit einem Ausblick auf jene Bereiche, in denen die Diskutanten die größte Notwendigkeit für neues Vertrauen sehen. Prof. Dr. Nora Szech wünscht sich mehr Hilfestellungen für Kinder und Jugendliche, gesundes Selbstvertrauen aufzubauen. Sie sieht das auch geschlechterspezifisch: "Jungs haben oft überzogene Selbstbilder, Mädchen sollten sich hingegen mehr zutrauen." Prof. Dr. Martin Schweer fordert, Bereitschaft zu riskantem Vertrauen und zugleich zu kritischem Hinterfragen zu unterstützen: "Wir müssen Menschen helfen, sich nicht zu schnell auf das Einfache einzulassen." Prof. Dr. Guido Möllering würde gerne das Vertrauen fördern, in jenen Bereichen etwas radikal anders zu machen, in denen Fortschritte auf sich warten lassen, obwohl Problematiken schon seit langer Zeit bekannt sind: bei Gleichberechtigung, Umweltschutz, Nachhaltigkeit oder der Armutsschere. Und Prof. em. Dr. Friedrich Wilhelm Graf wünscht sich, in einem alle sicher zusammenhaltenden Rechtssystem in möglichst großer Vielfalt zu leben: Es müsse legitim sein, ganz individuell zu vertrauen und zu misstrauen, sein persönliches Distanzbedürfnis in Freiheit auszuleben: "Wir dürfen die Rede vom gesellschaftlichen Zusammenhalt nicht dramatisieren."
Anknüpfung und Alltag
Die zuletzt von den Diskutanten formulierten Visionen öffnen ein geräumiges Feld an weiterführenden Fragestellungen und Diskursen. Denn deutlich wird vor allem, dass Vertrauen grundlegend für persönliches wie gesellschaftliches Überleben ist - und dass mangelndes Vertrauen nicht nur Wirtschaft, Religion und Politik, sondern auch jeden Einzelnen in seiner jeweiligen Entwicklung hemmen können. Mit den Bezügen und Positionen aus der Veranstaltung zum Thema "Vertrauen" lassen sich nicht nur die Ergebnisse der nächsten Online-Suche kontextualisieren - auch die nächste Diskussionsveranstaltung. Katja Ebeling weist darauf hin, dass die VolkswagenStiftung die Initiative Offene Gesellschaft! unterstützt, die sich als Mehrheitsvertretung und Gegenpol zu populistischen Bewegungen versteht. Sie stehe nicht nur für Vertrauen, sondern auch für Demokratie, Toleranz und Vielfalt. In Hannover veranstaltet die Initiative am 3. April im Transformationswerk eine Diskussionsrunde zu freier Meinungsäußerung in Zeiten von Fake News und alternativen Fakten. Ebeling empfiehlt diese als möglichen Anknüpfungspunkt. Es dürfte einer von vielen denkbaren in einem Alltag voller Vertrauensprozesse und -entscheidungen sein.
Thomas Kaestle