Gesund sein und bleiben mit System

Das aktuelle und zukünftige Gesundheitssystem in Deutschland stand im Zentrum der Debatte auf dem Herrenhäuser Forum am 24. März.
Reformbedarf ist unumstritten

Die Mehrheit der Deutschen ist im Großen und Ganzen mit dem hiesigen Gesundheitssystem zufrieden, Tendenz steigend. Zu diesem Ergebnis kommen verschiedene repräsentative Studien. Dass  Reformbedarf besteht, um auch zukünftig die medizinische Versorgung abzusichern, ist unter Gesundheitsexperten, Politikern und ebenfalls einem Großteil der Bevölkerung unbestritten. Wie unser Gesundheitssystem derzeit aufgestellt ist, wo es Verbesserungsbedarf gibt  und wie die erforderlichen Reformen aussehen könnten, haben Wissenschaftler auf dem Herrenhäuser Forum "Gesundheit! Wohin entwickelt sich unser Gesundheitssystem?" diskutiert.

Ausbildung und Schnittstellen als zentrale Themen

Den Abend eröffnete Prof. Dr. Jürgen Wasem, Gesundheitsökonom an der Universität Duisburg-Essen, mit  vier Thesen,: Die erste besagt, dass die durch die demographische Entwicklung bedingte doppelte Alterung, also die Verlängerung der Lebenserwartung und die Abnahme der jüngeren Jahrgänge, hohe Kosten für das Gesundheitssystem  nach sich zieht. Denn mit steigendem Alter nimmt die Zahl der chronisch Erkrankten deutlich zu, die das System mit hohen Behandlungskosten belasten. Seine zweite These lautete, dass das Gesundheitswesen  zum Beispiel auf das Phänomen der Multimorbidität, also das gleichzeitige Bestehen mehrerer Krankheiten bei einem Patienten, nicht ausreichend vorbereitet ist. "Weder in der medizinischen Ausbildung, noch in den Leitlinien des Gesundheitssystems sind die Aspekte der Multimorbidität ausreichend verankert. Das hat weitreichende Auswirkungen auf Qualität, Effektivität und Wirtschaftlichkeit medizinischer Behandlungen", konstatierte der Experte. Auch bei dem dafür notwendigen Schnittstellenmanagement zwischen einzelnen Versorgungseinrichtungen sowie verschiedenen Ärzten sieht er großes Optimierungspotenzial. Wasems dritte These: Die demographische Entwicklung wird zu einem Mangel an Arbeitskräften im Gesundheitssektor führen; diese Berufe müssen daher viel attraktiver werden. Seinen Impulsvortrag schloss der Gesundheitsökonom mit der vierten These, in der er forderte, dass mehr Gewicht auf die Gesunderhaltung der Bevölkerung als auf die  Heilung von Erkrankungen gelegt werden müsse.

Den ersten Vortrag des Abends hielt Prof. Dr. Jürgen Wasem, Gesundheitsökonom der Universität Duisburg-Essen. (Foto: Cora Sundmacher für VolkswagenStiftung)
Niemand weiß, wohin der Weg führt

Zu Beginn seines Vortrags stellte Prof. Dr. J.-Matthias Graf von der Schulenburg, Versicherungswissenschaftler an der Leibniz Universität Hannover, die Frage, wohin sich unser Gesundheitssystem entwickelt: "Die Antwort lautet, dass das keiner so richtig weiß."  Er kritisierte im Folgenden  die vergleichsweise große Zahl der Gesetze und Regelungen in der  Gesundheitspolitik, die seiner Ansicht nach zu einer Überregulierung führen. Seine zweite These zielte darauf, Rationierungen in den Blick zu nehmen. Nicht alles, was der  medizinische Fortschritt möglich mache, sei in der Breite im Gesundheitssystem finanzierbar. "Je besser die Gesundheitsversorgung ist, desto kränker werden die Menschen im Durchschnitt", formulierte er überspitzt.  Die mangelnde Verantwortlichkeit der Menschen für finanzielle Aufwendungen bei der eigenen Behandlung  sei ein großer Kostenfaktor, sagte von der Schulenburg. Als Alternative führte er das "Medisave"-System ins Singapur an, bei dem jeder Einwohner – analog zu deutschen Krankenkassenbeiträgen – monatlich Geld auf ein spezielles Konto einzahlt. Unter bestimmten Voraussetzungen kann er jedoch über das Geld  verfügen und sich teilweise sogar für andere Zwecke wieder auszahlen lassen. Zuletzt bemängelte der Experte die unzureichenden Gerechtigkeitskriterien des Gesundheitssystems; dies müsse verbessert werden, um bei knapper werdenden Mitteln ein Chaos zu vermeiden.

Prof. Dr. J.-Matthias Graf von der Schulenburg, Versicherungswissenschaftler der Leibniz Universität Hannover, stellte vier Thesen über unser Gesundheitssystem auf. (Foto: Cora Sundmacher für VolkswagenStiftung)
Mehr Qualität führt zu mehr Effizienz

In der folgenden Podiumsdiskussion kamen weitere Experten zu Wort, die sich unter anderem zu aktuellen Innovationsprojekten im Gesundheitssektor äußerten. So berichtete Prof. Dr. Gabriele Meyer vom Institut für Gesundheits- und Pflegewissenschaft der Medizinischen Fakultät Halle von neuen Ausbildungsmöglichkeiten für Pflegepersonal an Hochschulen, die in einen Bachelor-Abschluss münden: "Durch entsprechendes fachliches Wissen können diese Absolventen heilkundliche Tätigkeiten übernehmen und damit Ärzte entlasten." Dr. Thomas Reiß, Forscher am Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung, führte das Praxisbeispiel "Gesundes Kinzigtal" an. Der Kern dieses Pilotprojekts in Baden-Württemberg: Durch das Augenmerk auf eine hohe Qualität der medizinischen Versorgung und erfolgreiche Prävention sollen geringere Gesamtkosten für die Versicherten und die Krankenkassen entstehen. Somit refinanzieren sich Investitionen, die Effizienz des Gesundheitssystems steigt und die Bevölkerung ist besser versorgt.

Die Podiumsdiskussion hat Prof. Dr. Gabriele Meyer, Vorsitzende des Deutschen Netzwerks Evidenzbasierte Medizin und Wissenschaftlerin am Institut für Gesundheits- und Pflegewissenschaft der Medizinischen Fakultät Halle, bereichert. (Foto: Cora Sundmacher für VolkswagenStiftung)

Dieser Vorteil finde hierzulande noch zu wenig Beachtung, bilanzierte Reiß: "Unser Gesundheitssystem ist derzeit eher ein Krankheitssystem, das sich um die Belange der Erkrankten kümmert. Dabei sollte es viel mehr auf die Gesunderhaltung ausgerichtet werden."

Prozesse bedürfen der Erneuerung

Prof. Dr. Meyer entgegnete Reiß, dass ein Modellversuch wie im Kinzigtal sich für ihren Arbeitsort, das Bundesland Sachsen-Anhalt, nur schwer umsetzen lässt. Die bestehenden demographischen Strukturen und auch die des etablierten Gesundheitssystems würden solche neuen Strukturen momentan nicht zulassen. Dem stimmte auch Prof. Dr. Wazem zu: "Wir haben hierzulande keinen Mangel an Produktinnovationen, allerdings tun wir uns mit Prozesssinnovationen  schwer." Und von der Schulenburg fügte hinzu, dass, wie auch im Falle des Kinzigtals, viele Vorhaben von Anreizsystemen abhängen und Investitionen vor allem vom Markt angetrieben werden. Sein Plädoyer: "Wir müssen viel öfter die Bevölkerung und  im Gesundheitswesen tätige Personen fragen, was ihr Wunsch ist und was sie benötigen."

Komplettiert wurde die Runde durch Dr. Thomas Reiß, Forscher am Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung. (Foto: Cora Sundmacher für VolkswagenStiftung)

Im Laufe der Diskussion kamen die Experten wiederholt auf eine weitere Innovation zu sprechen, die  in Deutschland derzeit  in Modellversuchen erforscht wird: die Elektronische Gesundheitsakte. In dieser Datenbank sollen Anamnese, Behandlungsdaten, Medikamente, Allergien und weitere Gesundheitsinformationen übergreifend gespeichert werden, um medizinische Behandlungsabläufe effizient koordinieren und verbessern zu können. Nach Ansicht der Experten auf dem Podium ist die Einführung der Akte, die mithilfe der Elektronischen Gesundheitskarte der Krankenversicherungen abgerufen werden kann, längst überfällig. "Die Gesundheitsakte ist nur deshalb noch nicht eingeführt, weil Daten besser geschützt werden als Menschen", kritisierte Graf von der Schulenburg die schleppenden Fortschritte bei dieser Prozessinnovation. Und Wazem fügte hinzu: "Auch die  Verbände, die seit Beginn der Diskussionen über dieses Thema jahrelang Machtspiele betrieben haben, trugen zu dem Zeitverlust bei der Einführung bei." Im europäischen Ausland, zum Beispiel in Großbritannien, funktionierten Systeme dieser Art bereits erfolgreich.

Die Experten auf dem Podium haben das Publikum verschiedentlich in die Diskussion mit einbezogen. (Foto: Cora Sundmacher für VolkswagenStiftung)