Flüchtlinge in den Medien: Das rechte Maß stets hinterfragen
Welche Wechselwirkungen bestehen zwischen medialer Berichterstattung, öffentlicher Meinung und politischem Handeln in der sogenannten "Flüchtlingskrise"? Veranstaltungsbericht zum "Herrenhäuser Forum EXTRA" der VolkswagenStiftung in Kooperation mit der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover im Schloss Herrenhausen am 6. April 2016.
"Sprachliche Abrüstung"
Die Notwendigkeit sachlicher Debatten über das in der Regel höchst aufgeladene Thema Migration und Flucht betonte bereits Moderator Dr. Ludger Vielemeier im Herrenhäuser Forum mit dem Titel "Wir sind gefragt! Wege aus dem Flüchtlingsdilemma" der VolkswagenStiftung im März 2016. Dabei ging es um einen differenzierten Expertenblick auf mögliche ausgelöste Krisen und das Potenzial des Umgangs damit.
Vorangegangen war außerdem ein Vortrag des kanadischen Historikers und Politikwissenschaftlers Prof. Randall Hansen im November 2015, der auf Einladung der Stiftung zu historischen, globalen und demografischen Perspektiven auf Migration gesprochen hatte. Vielemeier wünschte sich unter anderem eine "sprachliche Abrüstung". Sprache und Kommunikation standen nun im Mittelpunkt einer dritten Veranstaltung zum Themenkomplex Flucht und Migration, dieses Mal mit Vertretern aus Journalismus, Politik und Wissenschaft.
Bei der Vorstellung seiner Podiumsgäste betonte Prof. Dr. Christoph Klimmt vom Institut für Journalistik und Kommunikationsforschung der Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover, der als Moderator durch den Abend führte, dass die Perspektive aller drei "gesellschaftlichen Funktionsbereiche" wichtig sei für einen umfassenden Blick auf die Rolle der Medien in der sogenannten Flüchtlingskrise. Es gehe dabei ebenso um Verdienste, wie um Minderleistungen.
Er fragte: "Wie gehen die etablieren Medien mit dem um, was gerne "Schlüsselereignisse" genannt wird?" Damit bezog sich Klimmt auf die Ereignisse aus der Silvesternacht 2015/2016, aber auch auf die Landtagswahlen vom 13. März 2016, bei denen die AfD deutliche Erfolge verzeichnen konnte. Nicht zu vergessen seien aber jeder Einzelbericht, jede Themen- oder Bilderwahl. Und: Wie werden Meinungen beeinflusst, wie mit Meinungsbildungsprozessen in den Sozialen Medien umgegangen?
"Auch Impulse für die Politik – oder deren Ausbleiben – spielen eine Rolle", führte Klimmt aus, und fügte an: "Ob die Herausforderungen, die aus den aktuellen Wanderungsbewegungen entstehen, bewältigt werden können, hängt auch davon ab, was die Medien aus diesen Herausforderungen machen, und wie sich die öffentliche Meinung dazu entwickelt."
Handwerk und Ethik
Sie werde in ihrer Position in den vergangenen Monaten gefordert wie noch nie, erzählte Claudia Spiewak, Chefredakteurin des NDR Hörfunks und Programmchefin des Senders NDR Info: "Wir stoßen mit unserem Handwerkszeug bisweilen an Grenzen." Dabei könne man gar nicht alles richtig machen, weshalb es wichtig sei, dass regelmäßig selbstkritische Diskussionen auch über ethische Fragen geführt werden. Das beginne schon beim Sprachgebrauch. "Manches hat sich als wenig hilfreich erwiesen", erklärte sie. Zum Beispiel der Begriff "Flüchtlingsströme".
Auch um angemessene Abbildungen müsse oft gerungen werden. Letztlich gehe es natürlich immer darum, zu beschreiben, nach Ursachen und politischen Lösungsansätzen zu fragen. Die Auswahl stehe jedoch immer wieder zur Debatte: "Blenden wir Teile des Geschehens aus und machen uns zu einem Teil von Willkommenskultur?"
Ruhe und Distanz
Doris Schröder-Köpf, Landesbeauftragte für Migration und Teilhabe des Landes Niedersachsen, wünscht sich mehr Distanz und Ruhe in der Berichterstattung. Wenn Euphorie wie nach der Kölner Silvesternacht plötzlich in negative Extreme kippe, sei es umso wichtiger, rechtzeitig differenziert nachzufragen. "Auch die komplett andere Haltung europäischer Nachbarländer zum Thema Flucht hätte bereits lange im Vorfeld erkannt werden können", erläuterte sie und nahm Medien und Politik gleichermaßen in die Pflicht.
Der europäische Kontext werde generell zu oft vernachlässigt. Für die Politik sei es eher schwierig, auf schnelle, extreme Veränderungen in der öffentlichen Meinung zu reagieren, erklärte Schröder-Köpf. Und führte aus: "Das sind zu recht träge Systeme – Gesetzgebung darf sich nicht nach dem Augenblick richten."
Meinungsbildung und Grundrauschen
Hendrik Brandt, Chefredakteur der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung, forderte einen reflektierteren Blick auf "Zuwanderung als Megathema", anstatt akute Ereignisse in der Flüchtlingsthematik zu überstrapazieren. "Dies bedarf einer handwerklich sauberen journalistischen Aufbereitung", grenzte er die Arbeit der etablierten Medien von schnelllebigen Diskussionen in den Sozialen Medien ab. Einerseits dürfe man sich von einem solchen Grundrauschen der Meinungen nicht verunsichern lassen, so Brandt: "Menschen äußern sich eben oft unreflektiert, wir sollten aber nicht glauben, dies sei die wirkliche Wirklichkeit."
Zugleich habe man die neuen Medien zu lange ignoriert. Die Sozialen Medien auszublenden oder nicht ernst zu nehmen, sei ein gefährlicher Fehler. "Auch wenn es mehr Arbeit macht, wir müssen die Meinungsbildung dort verfolgen", plädierte Brandt.
Komplexität und Erwartungen
Populistische Debatten bezögen ihre Energie oft aus der Sehnsucht der Menschen nach einfachen Lösungen, erklärte Dr. J. Olaf Kleist vom Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien der Universität Osnabrück. Falsche Erwartungen an Politik und Gesellschaft unterschätzten in der Regel die Komplexität der Situation. "Die Wissenschaft versucht, die Zusammenhänge zwischen den verschiedenen räumlichen Ebenen des Geschehens zu analysieren", so Kleist.
Globale Perspektiven auf Migration und Flucht einerseits und der lokale Umgang mit entstehenden Problemen andererseits seien oft kaum kompatibel. "Wir müssen uns auf diese Komplexitäten einlassen, anstatt sie zu vereinfachen", plädierte Kleist. Weitere Perspektiven seien wichtig und sinnvoll. So könne man beispielsweise auch die Journalisten unter den Geflüchteten in eine Berichterstattung einbinden.
Motivsetzung und Schubsen
Zwei wesentliche Phänomene machte Prof. Dr. Gerhard Vowe, Professor für Kommunikations- und Medienwissenschaft an der Universität Düsseldorf, in den vergangenen Monaten aus: die Welle der Hilfsbereitschaft und den Erfolg der fremdenfeindlichen AfD. Die Medienwirkungsforschung versuche, die Rolle der Medien mithilfe einer Kausalitätskette zu erklären. Am Anfang stehe das "General Setting": "Die Medien signalisieren die Dominanz des Themas Flüchtlinge und benennen eine Krise." Beim "Framing" gehe es um die Art der Berichterstattung.
"Das Motiv ist das Versagen der Politik: Sie ist ratlos, zerstritten, hat keine rasche, einheitliche Lösung", erklärte Vowe. Das "Priming" stelle Personen mit Problemlösungspotenzial heraus. Vowe kommentierte: "Hier fand negatives Priming statt, es wurde niemandem Kompetenz zugewiesen." Das "Nudging" schließlich habe dann vor allem in den Sozialen Medien stattgefunden: "Ein Schubsen der Unzufriedenen hin zur AfD aufgrund grundlegend ausländerfeindlicher Wertmuster."
Bildung und Zweifel
Doris Schröder-Köpf wies auf den Rückgang der Reichweite etablierter Medien hin: "In den Schulen müsste das Lesen längerer analytischer Texte stärker gelehrt werden." Die Abokrise von Tageszeitungen zeige ein Desinteresse am Lesen ruhigerer, kontextbetonender Texte. Extreme Stimmungswellen aufgrund oberflächlicher Information verunsicherten alle Beteiligten. "Wir müssen das durch bessere Bildung auffangen", ist Schröder-Köpf überzeugt. Sie forderte: "Wir brauchen wieder eine Landeszentrale für politische Bildung."
Hendrik Brandt wies auf die generell geringen Anteile jener hin, die anspruchsvollen Journalismus wahrnehmen: "Wir liegen hier etwa bei zehn Prozent der Bevölkerung." Claudia Spiewak erklärte das Erstarken der rechten Parteien auch durch Erklärungsdefizite in der Politik: "Zweifel haben im Diskurs eine zu kleine Rolle gespielt."
Muster und Inspirationen
Dr. J. Olaf Kleist sah einen großen Anteil der Medien an der Hilfsbereitschaft innerhalb der Bevölkerung: "Hier wurde durch das Aufzeigen eines Bedarfs Handeln inspiriert." Das Engagement der Zivilgesellschaft in einem politischen Kontext hielt er für ungewöhnlich.
Prof. Dr. Gerhard Vowe pflichtete ihm bei. Eine Studie der evangelischen Kirche habe einen Bevölkerungsanteil von elf Prozent ermittelt, der sich durch aktive Hilfeleistung, Sach- oder Geldspenden engagiert. Dies sei Ergebnis eines "Framings" durch die Medien: "Erst die Wahrnehmung von hilfsbedürftigen Menschen auf der Flucht konnte dies auslösen – Migration als Thema hätte das nicht bewirkt."