Durch den Datendschungel schubsen: Manipulation oder Hilfestellung?

Digitales "Nudging" beeinflusst die Entscheidungsprozesse einzelner Bürger – und kann in der Summe ganze Gesellschaften in ihrer Entwicklung einschränken. Veranstaltungsbericht zum Herrenhäuser Forum Mensch-Natur-Technik der VolkswagenStiftung in Kooperation mit Spektrum der Wissenschaft am 15. Juni 2016 in Hannover.

Manipulation und Freiheitsrechte

Während des Herrenhäuser Forums "Sie kriegen dich - wohin führt uns digitales Nudging?" gebiete wie immer die Höflichkeit, sein Smartphone auszuschalten – nach Inputs und Diskussion über digitales Nudging könne dann ja jeder für sich entscheiden, ob er es jemals wieder einschalten wolle. Mit diesen Worten spitzte Katja Ebeling von der VolkswagenStiftung die verbreitete Angst vor Kontrolle und Manipulation in der vernetzten Datenwelt zu. Prof. Dr. Carsten Könneker, Chefredakteur von Spektrum der Wissenschaft, bestätigte in seiner Einführung, dass die Bedrohung auch von einigen Experten sehr ernst genommen werde: "Manche befürchten bereits den Verlust bürgerlicher Freiheitsrechte und sehen eine Gefahr für die Demokratie." Auch in der Redaktion seines Magazins werde das Thema intensiv diskutiert. Letztlich gehe es aber um das Abwägen von Chancen und Gefahren.

Aufzüge und Obst

Der Begriff "Nudging" leite sich zunächst ab vom englischen Verb "to nudge", was so viel bedeute wie anstupsen, erläuterte Prof. Dr. Carsten Könneker. "Analoges Nudging findet sich zum Beispiel in der Bevormundung durch wohlmeinende Planer und Architekten, die in öffentlichen Gebäuden die Aufzüge verstecken, um die Benutzung der Treppen nahezulegen." Indem ein bestimmtes Verhalten gefördert werde, werden Menschen Entscheidungen abgenommen, um ihnen Gutes zu tun.

Es handle sich beispielsweise auch um analoges Nudging, wenn in Schulcafeterias auf Augenhöhe der Kinder nicht Schokolade liege, sondern Obst, erklärte Könneker. "Problematisch wird es, wenn Manipulationen immer schwerer zu erkennen sind", differenzierte er. Vor allem in der vernetzten digitalen Welt gehe Nudging inzwischen weit über personalisierte Kaufempfehlungen hinaus.

Rationalität und Abweichungen

Die Frage nach menschlichen Entscheidungen sei zunächst eine der verhaltensökonomischen Empirie, betonte Prof. Dr. Jan Schnellenbach. Er forscht zu Verhaltensökonomie am Walter Eucken Institut in Freiburg und hat einen Lehrstuhl für Mikroökonomie an der Technischen Universität Cottbus-Senftenberg. "Die Empirie zeigt, dass der vollständig rational handelnde homo oeconomicus eigentlich ein utopisches Ideal ist", erläuterte Schnellenbach, "dennoch ist er leider noch immer normativer Maßstab der Wirtschaftswissenschaften." Dabei sei erwiesen, dass Menschen ihren Geschmack verändern, dass kurzfristige Abweichungen von langfristigen Zielen normal seien und dass Stimmungen und Situationen Entscheidungen stark beeinflussen – so genannte Framing-Effekte.

Paternalismus und Scheinautonomie

Nudging sei ursprünglich als liberaler oder auch sanfter Paternalismus bekannt gewesen, so Prof. Dr. Schnellenbach: "Dabei konstruiert ein Entscheidungsarchitekt eine Entscheidungssituation so, dass Verhalten in eine bestimmte Richtung gelenkt wird." Die Motivation sei dabei wesentlich, betonte der Forscher. Ziel könne einerseits sein, den Beeinflussten etwas tun zu lassen, das gut für ihn sei. Einschränkend fügte er hinzu: "Die Grundlage solcher Bewertungen ist oft nicht eindeutig." Andererseits stehen bei ideologischen Motiven die eigenen Maßstäbe über denen der anderen. Und bei ökonomischen schlicht die Gewinnmaximierung. "Grundsätzlich geht es aber um geschickte Rahmensetzung und sanfte Anreize statt um Zwang oder Verbote", erläuterte er. So werde Paternalismus auch kommuniziert – der Handelnde sei autonom und könne sich ja jederzeit auch anders entscheiden.

Offenheit und Lebensstile

"Die Probleme beginnen dort, wo Entscheidungssituationen nicht mehr ausreichend transparent sind", betonte Prof. Dr. Schnellenbach. Kein Widerspruch sei eben nicht gleichbedeutend mit Zustimmung. Durch eine zunehmende Standardisierung von Entscheidungsarchitekturen anstelle von Vielfalt und Zufall gehe die Offenheit individueller Lernprozesse verloren. Für die Rolle des Staates beim digitalen Nudging sah Schnellenbach zwei Optionen: "Regulierende Eingriffe zum Verbraucherschutz können als defensives Nudging einerseits sinnvoll sein – offensives Nudging mit dem Ziel, bestimmte Lebensstile nahezulegen, sollte in einem liberalen Rechtsstaat andererseits keine Rolle spielen." Positive Einsatzmöglichkeiten sieht Schnellenbach beim digitalen Self Nudging: Such- und Empfehlungslogarithmen oder Kontrollmechanismen, die der Verbraucher eigenständig definiere, blieben transparent und flexibel.

Risiko und Aufklärung

Prof. Dr. Gerd Gigerenzer sah vor allem einen Option, die der "digital ferngesteuerten Gesellschaft" entgegenzusetzen ist: "Wir müssen durch Aufklärung bei den Bürgern für mehr Risikokompetenz sorgen." Der Psychologe ist Risikoforscher am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin. Er sieht den Begriff des Nudging problematisch. Die in ihm zusammengefassten Methoden seien im Marketing längst bekannt. "Und im Design geht es in diesem Zusammenhang darum, die Umwelt so zu organisieren, dass wir sie fehlerfrei nutzen können", erklärte Gigerenzer. Nur Philosophie und Menschenbild seien neu, aber für ihn zweifelhaft. Der Mensch könne lernen, mit Risiken vernünftig umzugehen und müsse dabei nicht vom Staat in Rollen gedrängt werden. "Anstatt Menschen durch Irrationalität zu etwas zu bringen, können wir sie aufklären, ihnen helfen, mit modernen Technologien besser zurecht zu kommen", war Gigerenzer überzeugt.

Lässt sich die Gesundheit unserer Kinder durch gezielte Impulse, etwa die Süßigkeiten-Ausstellung in der Schulmensa, beeinflussen? (Foto: StefanieB. - fotolia.com)

Schafe und Blasen

Staatlichen Paternalismus sah Prof. Dr. Gerd Gigerenzer als antiaufklärerisches Programm: "Wir müssen Bürger kompetent machen, nicht wie Schafe irgendwohin schieben." Die Fusion aus Nudging und Big Data nennt er Big Nudging – also eine Entscheidungsmanipulation anhand großer gesammelter Datenmengen. Dabei halte er dieses Big Nudging vor allem für Big Business. An Vorhersagen durch Big Data glaube er nicht. "Das ist das Gegenteil von Expertenwissen, Intuition, Erfahrung und Theorie", grenzte er sich ab. Für Gigerenzer kann ausreichende Risikokompetenz Nutzer zum Beispiel in die Lage versetzen, die Informationsalgorithmen von Facebook oder Suchmaschinenblasen zu durchschauen, die irgendwann nur noch die eigene Welt zu bestätigen scheinen. "Mit solchen Manipulationen werden Wahlen entschieden", glaubte er.

Interdisziplinarität und Transparenz

Prof. Dr. Wolfgang Nejdl lehrt Informatik an der Leibniz Universität Hannover. Außerdem ist er Sprecher eines von fünf Konsortien, die sich um die Leitung eines zu gründenden deutschen Internet-Instituts bewerben. Dessen Ziel ist es, die Digitalisierung besser zu verstehen und nutzbar zu machen. Er war überzeugt: "Wir brauchen im Umgang mit digitalen Phänomenen mehr interdisziplinäre Podien für einen gemeinsamen Blick." So müssten sich zum Beispiel Informatik und Rechtswissenschaften aktuell ergänzen. Auch Nejdl plädierte für mehr Aufklärung beim Bürger: "Anstatt blind irgendwelchen Algorithmen zu vertrauen, sollten wir anfangen, zum Beispiel die Ergebnisse von Suchmaschinen zu vergleichen." Und auch wenn man sich nicht auf Wikipedia verlassen sollte, weil es kollektiv verfasst wird – Nejdl riet, öfter die transparenten Entstehungsprozesse der Texte zu studieren, um sich einem Thema anzunähern.

Staat und Information

Dr. Bettina von Helversen ist Wirtschaftspsychologin an der Universität Zürich. Sie wies darauf hin, dass die Praxis des Nudging dessen Begriff weit voraus sei. 136 von 196 Staaten weltweit bedienten sich in ihren gesellschaftlichen Interventionen Techniken des Nudging. In 51 davon existierten staatliche Institutionen, die sich mit dem Thema beschäftigten. Helversen glaubt an die Präsentation von Informationen in einer möglichst klar verständlichen Art und Weise. "Wenn das dann schon Nudging wäre, müssten wir es sogar fördern", so die Wissenschaftlerin.

Infantilisierung und Verstand

Allerdings widersprach ihr Prof. Dr. Gerd Gigerenzer. Die Wissenschaft neige dazu, den Begriff immer weiter auszulegen. "Es geht aber bei Nudging immer um das Ausnutzen von Unzulänglichkeiten", war er überzeugt. Diese Unzulänglichkeiten werden oft gezielt aufrechterhalten, indem der Zugang zu Information verweigert werde: "Die meisten Menschen merken gar nicht, dass sie etwas nicht bekommen." Prof. Dr. Jan Schnellenbach pflichtete ihm bei: "Die Politik muss aufhören, Dinge so einfach wie möglich machen zu wollen." Wenn Informationen zu stark vereinfacht werden, führe dies zu einer Infantilisierung des Verbrauchers. Schnellenbach forderte: "Wie dürfen nicht verlernen, zu hinterfragen, müssen immer weiter Kompetenzen fördern und den Verstand trainieren."

Bericht von Thomas Kaestle

Erkenntnisse aus dem Bereich "Big Data" können das Digital Nudging entscheidend beeinflussen. (Foto: Defense Advanced Research Projects Agency - DARPA)