Die Faszination der Selbstvermessung

Das Self-Tracking stellt sich in die alte Tradition der Frage nach dem guten Leben. Ein Herrenhäuser Gespräch beleuchtete die Vor- und Nachteile der freiwilligen Selbstauskunft.
Veranstaltungsbericht zum 29. Herrenhäuser Gespräch am 27. November 2014"Quantified Self – Fluch und Segen der digitalen Selbstvermessung" mit Kathrin Passig, Dr. Stephan Humer, Prof. Dr. Stephan Porombka, Prof. Dr. Dr. Thomas Schildhauer und Stephan Lohr (Moderation)
v.l.n.r.: Prof. Dr. Dr. Thomas Schildhauer, Prof. Dr. Stephan Porombka, Kathrin Passig, Dr. Stephan Humer, Stephan Lohr (Foto: Mirko Krenzel für VolkswagenStiftung)
Self-Tracking – Altes oder neues Mittel?

"Wer trackt sich eigentlich selbst?" Mit dieser Publikumsfrage eröffnete Moderator Stephan Lohr das 29. Herrenhäuser Gespräch "Quantified Self – Fluch und Segen der digitalen Selbstvermessung". Nur vereinzelt gingen Hände der Besucher im Auditorium von Schloss Herrenhausen in die Höhe – vielleicht ein Zeichen dafür, dass die Vielfalt der Selbstvermessung, auch Self-Tracking genannt, den Nutzern nicht ausreichend bewusst sind. Denn dass es sich bei den Nutzern von Self-Tracking nicht um eine in sich geschlossene "Szene" handelt, machte die Journalistin und Autorin Kathrin Passig deutlich. Wo früher die überbordende Selbstvermessung per Tagebuchaufzeichnung als "Datenbesessenheit" galt oder vornehmlich Sportlern vorbehalten war, nimmt Self-Tracking als Erweiterung klassischer Methoden wie der Temperaturmessung zur Schwangerschaftsverhütung oder der Überprüfung von Blutzuckerwerten, Blutdruck und Herzfrequenz als Basis für medizinische Therapien zusehends Einzug in den Alltag. Jedoch beschränkt sich die Vermessung nicht ausschließlich auf den Gesundheitsbereich: Die neuen Tracking-Angebote, oftmals in Form von Smartphone-Apps, führen nicht nur digital Buch über die Schlaf-, Ess- und Bewegungsgewohnheiten, sondern können auch ermitteln, inwiefern sich die eigene Leistung beispielsweise beim Scrabble verbessert hat. Damit ergänzen sie lediglich herkömmliche Verfahren, tun dies allerdings in einer "bisher nie gekannten Qualität", konstatierte der Internetsoziologe Dr. Stephan Humer.

Kathrin Passig erläuterte, dass Self-Tracking Einzug in den Alltag gefunden hat. (Foto: Mirko Krenzel für VolkswagenStiftung)
Die Frage nach dem guten Leben

Aus der Praxis der Selbstvermesser berichteten Prof. Dr. Dr. Thomas Schildhauer und Prof. Dr. Stephan Porombka. Der Internetforscher Schildhauer schilderte anschaulich seinen Selbstversuch, mit einem installierten Schrittzähler seine Bewegung zu erfassen. Dabei beobachtete er: Um das von der App vorgegebene Soll von täglich 10.000 Schritten zu erreichen, musste er eigene Gewohnheiten verändern, indem er beispielsweise an bewegungsarmen Tagen statt des Aufzugs lieber die Treppe nahm. Porombka, Literaturwissenschaftler und Selbstvermesser von der Universität der Künste Berlin, pflichtete ihm bei: Durch die direkte Rückkopplung erhält der Nutzer ungeschönte Auskünfte über das eigene oft ungesunde Verhalten, das in manchen Fällen sogar zu einer Korrektur der eigenen Selbsteinschätzung führt. "Ich habe unheimlich viel über mich gelernt", stellte auch Porombka nach ausgiebiger Selbsterprobung fest. Indem die Apps quantitativ messbare Rückschlüsse über Optimierungspotentiale zulassen, "reiht sich das Tracking vor allem in die aristotelische Tradition der Frage nach der 'Lebenskunst', wie man ein gutes Leben führt", berichtete Porombka. Humer stimmte zu, dass die Apps "eigene Mankos" durchaus ausmerzen können. Trotzdem warnte er davor, sich als Nutzer zu stark von der "Magie der Zahlen" einnehmen zu lassen, da diese anfällig seien und keine differenzierte Sicht auf die Lebensweise zuließen. Denn was nütze es dem Selbstvermesser für seine Gesundheit, wenn er zwar 10.000 Schritte am Tag zurückgelegt, aber gleichzeitig 40 Zigaretten geraucht hat.

Prof. Dr. Dr. Thomas Schildhauer und Prof. Dr. Stephan Porombka berichteten über die eigenen Erfahrungen mit der Selbstvermessung. (Foto: Mirko Krenzel für VolkswagenStiftung)
Risiken der Selbstvermessung

Ein weiteres Risiko, dessen sich die Nutzer bewusst sein sollten, führte Schildhauer an: Er erklärte, dass durch das Tracking eine große Menge an Daten an oft unbekannter Stelle gesammelt wird, oftmals ohne dass dafür eine bewusste Einwilligung vorliegt. Darin sieht er die Gefahr, dass diese Daten später auf den Einzelnen zurückgeführt und gegen diesen verwendet werden könnten. Diese These untermauerte er anschließend mit einer anschaulichen Studie aus der Zeitschrift "Technology Review", in der 43 studentische Probanden über ihre Smartphone-Nutzung beobachtet wurden. Das Ergebnis: Anhand des Nutzungsverhaltens ließen sich Rückschlüsse über deren psychische Gesundheit sowie Noten an der Universität erhalten. "Von dem Horrorszenario, dass die Wirtschaftsunternehmen diese Daten zum Nachteil der Verbraucher auswerten, sind wir jedoch weit entfernt", urteilte Humer. Und auch Passig erkennt in der digitalen Datenspeicherung nur eine Weiterentwicklung bereits verwendeter Praktiken der Versicherungsbranche, die jedoch langfristig zu einer systematischen Eingruppierung der Versicherten führen könnten. Ein Gegenmittel gegen ein solches Vorgehen stellt laut Schildhauer nur die Macht der Verbraucher dar, die sich ausschließlich auf Basis der Marktgesetze einer solchen Systematisierung entziehen können.

Rechtliche und politische Rahmenbedingungen

Moderator Lohr versuchte, seinen Gesprächspartnern zu entlocken, welche rechtlichen und politischen Schritte vorgenommen werden müssten, um den öffentlichen und privaten Raum stärker voneinander zu trennen. Passig nahm dazu Stellung und skizzierte für den politischen Bereich am Beispiel des NSA-Skandals, dass die Regierung ihre Bürger nicht ausreichend vertrete. Dahinter vermute sie Eigeninteressen der Politik. Und auch Schildhauer zeigte auf, dass der juristische Rahmen, in dem die Datenerhebung stattfindet, durchaus an die Grenzen der nationalen Gesetzgebung stößt: Weil die Daten größtenteils von Apps amerikanischer Unternehmen erhoben und nicht auf deutschen Servern gespeichert werden, unterliegen sie automatisch dem amerikanischen Rechtsraum. Dieser wiederum sieht keinen Anspruch des Nutzers vor, seine Aufzeichnungen zu löschen.

Moderator Stephan Lohr erkundigte sich nach den Risiken des Self-Trackings. (Foto: Mirko Krenzel für VolkswagenStiftung)
Schritt halten mit der Entwicklung

Insgesamt waren sich die Podiumsteilnehmer darüber einig, dass sich ihre Kritik nur gegen Details der Selbstvermessung richtet, nicht jedoch gegen das Tracking an sich: "Wir können zwar nicht abschätzen, was mit den Daten passiert", räumt Porombka ein, jedoch ruft er in seinem Selbstverständnis als experimenteller Kulturwissenschaftler dazu auf, "sich selbst auszuprobieren und sich von dem Ergebnis überraschen zu lassen." Dies begründete er mit einem gesellschaftlichen Wandel: "Wir befinden uns in einem Umfeld des kulturellen Experimentierens, in dem alte Modelle nicht mehr greifen." Beispielsweise verliere das analoge, intellektuelle Buch als Erkenntnisgewinn an Stellung, da es nun ergänzt werde um eine Fülle an quantifizierbaren Dokumenten und Auskünften über die Gesellschaft. Die Beschäftigung mit diesen neuen Form der Selbstreferenz und der Selbstbeobachtung präsentiere sich ihm als eine Faszination, der man sich spielerisch annähern müsse. Auch Humer empfindet die neuen Entwicklungen als "einen riesigen Schritt nach vorne." Er wünsche sich einen schnelleren Anschluss beim Self-Tracking an den asiatischen und US-amerikanischen Wirtschaftsraum und prophezeite den deutschen Skeptikern: "Vermutlich werden wir erst dann, wenn es wehtut, einsehen, dass wir mit der schnellen Entwicklung der Technik stärker Schritt halten müssen."

Dr. Stephan Humer sieht im Self-Tracking große Chancen. (Foto: Mirko Krenzel für VolkswagenStiftung)
Verabschiedung Stephan Lohr

Mit dem Ende der Podiumsdiskussion über die Selbstvermessung verabschiedete sich auch Moderator Stephan Lohr von seinem Publikum. Ab dem 22. Januar übernimmt Dr. Ulrich Kühn seine Nachfolge. Zusammen mit der VolkswagenStiftung hatte Lohr insgesamt 29 Herrenhäuser Gespräche in Hannover und ein Herrenhäuser Gespräch Extra in Berlin veranstaltet. Lohr richtete dankende Worte an die zahlreichen Mitwirkenden, insbesondere an Katja Ebeling, Referatsleiterin Veranstaltungen der VolkswagenStiftung, mit der zusammen er die bisherigen Veranstaltungen konzipiert hatte. Zum Abschied erhielt er Wein aus den Händen von Dr. Wilhelm Krull, Generalsekretär der VolkswagenStiftung, und Blumen von Ebeling sowie einen lang anhaltenden Applaus des Publikums.   Das Herrenhäuser Gespräch "Quantified Self – Fluch und Segen der digitalen Selbstvermessung" wird am 28. Dezember um 20 Uhr im NDR Kultur Sonntagsstudio ausgestrahlt. Andrea Oechtering

Katja Ebeling bedankte sich für die gelungene Zusammenarbeit in den letzten Jahren bei Moderator Stephan Lohr. (Foto: Mirko Krenzel für VolkswagenStiftung)