Der Jolie-Effekt: Stars als fragwürdige Botschafter für Medizin und Forschung

Ob Hollywood-Ikone oder Top-Sportler – Prominente haben erheblichen Einfluss auf das Verhalten vieler Menschen. Sie sind nicht mehr nur Vorreiter, wenn es um Mode oder Lifestyle geht, sondern machen sich immer häufiger auch zu Fürsprechern neuer Entwicklungen in Wissenschaft oder Medizin. Ein problematischer Trend, der weniger der Aufklärung denn der Vermarktung fragwürdiger Produkte und Therapien diene, warnt der Kommunikationsexperte Timothy Caulfield. – Ein Beitrag zum Themenschwerpunkt "Wissenschaft und Gesellschaft" der VolkswagenStiftung.

Nachrichten über Amputationen sind üblicherweise nicht die Art von News, die als hip und trendy gelten. Doch der Artikel, den der Hollywood-Star Angelina Jolie am 14. Mai 2013 in der New York Times veröffentlichte, verbreitete sich innerhalb kürzester Zeit viral. Die damals 37-Jährige Schauspielerin teilte der Weltöffentlichkeit darin mit, dass sie sich aus Angst vor Brustkrebs vorsorglich beide Brüste habe abnehmen lassen.

Sie habe erlebt, wie ihre Mutter fast ein Jahrzehnt lang kämpfte  und schließlich mit 56 Jahren an den Folgen von Brustkrebs starb. Nun habe ein Test ein erheblich erhöhtes Risiko für die Krankheit bei ihr gezeigt, so Jolie. Sie trage eine defekte Variante eines Gen namens BRCA1 in sich. Laut ihrer Ärzte liege ihr Risiko für Brustkrebs dadurch bei 87 Prozent. "Als ich mich der Realität stellte, habe ich entschieden, proaktiv zu werden und das Risiko so gut es geht zu minimieren." Jolie schilderte auch die Prozeduren und Operationen, die insgesamt drei Monate dauerten, und ließ ihre Leser wissen, dass sie nach dem letzten Eingriff  ganz normal weiterarbeiten konnte. Sie wolle offen darüber sprechen, in der Hoffnung, damit anderen Frauen zu helfen. "Heutzutage kannst du durch einen Bluttest herausfinden, ob du besonders anfällig für Brust- oder Eierstockkrebs bist und dann entsprechend handeln."

Was dann passierte, ist für Timothy Caulfield, Professor für Gesundheitsrecht und -politik an der University of Alberta in Edmonton, Canada, ein Paradebeispiel dafür, wie stark die Pop-Kultur inzwischen das Gesundheitsverhalten vieler Menschen beeinflusst – und welch folgenschweren Hype Prominente mit Statements zu medizinischen Maßnahmen auslösen können. Seit Jahren erforscht der kanadische Kommunikationsexperte die Auswirkungen der Äußerungen von Prominenten zu Gesundheitsthemen auf die Öffentlichkeit. In mehreren Büchern hat er die Gesundheitsratschläge diverser Stars als Mythen entlarvt. Das Muster der Irreführung ist laut Caulfield stets dasselbe: Der Nutzen einer medizinischen Maßnahme wird übertrieben groß dargestellt, Nachteile und Risiken kaum oder gar nicht erwähnt. Dass es sich oft um Desinformation und Fake News handelt, ist für den Laien kaum erkennbar. Und selbst wenn der Leser oder Zuschauer auf der bewussten Ebene am Wahrheitsgehalt der Nachrichten zweifelt, findet im Gehirn ein unbewusster psychologischer Vorgang statt: Je öfter wir ein und dieselbe Botschaft aus verschiedenen Richtungen hören, desto eher halten wir sie für wahr.

Ein beträchtlicher Teil der verzerrten Berichterstattung findet auch nicht in den – fachlich meist gut geschulten – Wissenschaftsredaktionen der Medien statt, sondern in den Sport-und Klatschressorts. So lancierten Sportgrößen wie der spanische Tennis-Star Rafael Nadal oder der inzwischen verstorbene kanadische Eishockeyspieler Gordie Howe Berichte über "sensationelle Erfolge" irgendwelcher Stammzelltherapien, deren Sicherheit und Wirksamkeit weder geprüft noch nachgewiesen ist. Und Kampagnen gegen das Impfen oder für glutenfreie Ernährung werden von Filmschauspielerinnen angefacht.

Jedoch kein Star erzielte mit seinem öffentlichen Statement eine derart durchschlagende Wirkung wie Angelina Jolie. Nach ihrem Bericht in der New York Times ließen sich auf einmal nicht nur Tausende von Frauen auf das Brustkrebs-Gen BRCA1 testen. Auch die Zahl der Frauen, die sich aus Angst vor der Erkrankung beide Brüste amputieren ließen, stieg deutlich an. Das Phänomen ging als "Jolie-Effekt" in die moderne Medizingeschichte ein.

Aber kaum ein Laie weiß: Mehr als 99 Prozent aller Frauen betrifft der Fall von Jolie überhaupt nicht. Denn Brustkrebs ist in den seltensten Fällen genetisch bedingt. Weniger als ein Prozent der Bevölkerung tragen ein Brustkrebsgen in sich. Und selbst wenn ein  BRCA-Gentest "positiv" ausfällt, heißt das nicht, dass die Betroffene tatsächlich an Brustkrebs erkranken wird. Unklar ist auch, ob eine Frau, die sich zu dem Schritt entschließt, sich beide Brüste entfernen zu lassen, wirklich eine längere Lebenserwartung hat. Gesicherte wissenschaftliche Belege dafür gibt es nicht.

Dennoch, so Caulfield, hält der Effekt bis heute an. In einer im Herbst 2017 veröffentlichten Studie konnte er zeigen, dass sich die Zahl der BRCA1-Gentests und der prophylaktischen Brustamputationen seit Jolies Bericht verdoppelt hat. Caulfield sieht darin ein ernstzunehmendes Problem für die Gesellschaft: "Wir erleben diese Art von verzerrter Darstellung komplexer wissenschaftlicher Themen und deren Folgen in vielen Bereichen – von der Mikrobiomforschung über die personalisierte Medizin, die Genetik bis hin zur Stammzellforschung." Durch soziale Medien wie Facebook und Twitter werde der Trend künftig noch zunehmen. Die Gemeinschaft der Wissenschaftler sei daher aufgerufen, aktiv gegen Irreführung vorzugehen – und nicht auf Prominente als Vorbilder oder Ratgeber für komplexe medizinische Fragen zu setzen.

Autorin: Cornelia Stolze

Timothy Caulfield war Referent bei der Herrenhäuser Konferenz "Lost in the Maze - Navigating Evidence and Ethics in Translational Neuroscience“ im Februar 2017 in Hannover.

 

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Angelina Jolie setzte auf ihre Prominenz, um genetisch bedingten Brustkrebs stärker ins Bewusstsein zu rücken: mit ungeahnten Folgen. (Foto: Gage Skidmore via Wikimedia Commons CC BY-SA 2.0 https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0/)