5,3 Mio. Euro für den wissenschaftlichen Nachwuchs

In der zweiten Ausschreibung der Freigeist-Fellowships konnten acht Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler das internationale Gutachtergremium überzeugen: vier aus den Geistes- und Gesellschaftswissenschaften, vier aus den Natur- und Ingenieurwissenschaften.

Um dem wissenschaftlichen Nachwuchs neue Wege zu öffnen, hat die VolkswagenStiftung 2013 die Förderinitiative der Freigeist-Fellowships ins Leben gerufen. Das Programm richtet sich an exzellente Postdocs, die betont zukunftsweisende und originelle Forschungsideen an deutschen Hochschulen und Forschungseinrichtungen verwirklichen möchten und nicht nur eine herausragende fachliche Expertise mitbringen, sondern auch über die Grenzen des eigenen Faches hinausblicken.

Aus 156 Anträgen wurden nun acht Projektvorhaben bewilligt. Die neuen Fellows werden sich mit folgenden Themen befassen:

Der demografische Wandel stellt das deutsche Gesundheitssystem vor große Herausforderungen: In den nächsten Jahren wird der Bedarf an medizinischer Versorgung steigen, während tendenziell mit einem Rückgang an medizinisch geschultem Personal zu rechnen ist. Im ländlichen Raum besteht zusätzlich die Schwierigkeit, dass viele junge Menschen diesen verlassen und so die medizinische Versorgung dort immer schwerer gewährleistet werden kann. Umso wichtiger ist es, die Versorgungssysteme des Gesundheitswesens zukünftig effizient und effektiv zu gestalten.

Mithilfe mathematischer Methoden möchte Dr. Christina Büsing in ihrem Forschungsvorhaben nach Antworten suchen: Sie entwickelt adaptiv robuste Modelle, mit denen der Gesundheitssektor auf die häufig vorkommenden Bedarfsveränderungen und wandelnden Umwelteinflüsse reagieren kann. Dabei gilt es zu berücksichtigen, dass die entwickelten Modelle einerseits stabil sind, um einen zuverlässigen Ablauf zu ermöglichen; andererseits müssen sie sich auch an veränderte Umstände und Unsicherheiten anpassen lassen. Dies möchte die Wissenschaftlerin erreichen, indem sie u. a. Methoden aus der mathematischen Modellierung, der kombinatorischen und ganzzahligen Optimierung sowie der Simulation und Heuristik einbindet.

Dr. Christina Büsing (Foto: privat)

Die Gegend um den mittleren Nigerlauf in Mali war bereits ab 800 v. Chr. ein Zentrum des frühen Urbanismus. Ab ca. 400 n. Chr. entstanden hier auch eine Reihe von Staaten, die einen Großteil Westafrikas kontrollierten. Dennoch ist relativ wenig über die vorkoloniale Geschichte der dort ansässigen Zivilisation bekannt.

In seinem Freigeist-Projekt möchte der Archäologe Dr. Nikolas Gestrich nun am Beispiel der Markadugu, einem Netzwerk ehemaliger Handelsstädte, die Beziehung zwischen Staat, Stadt und Handel im vorkolonialisierten Westafrika umfassend untersuchen und aufzeigen, dass deren Strukturen deutlich vielschichtiger und wandelbarer waren als derzeit angenommen. Um sich ein Bild von der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Organisation der Region zu verschaffen, kombiniert er archäologische und geschichtswissenschaftliche Methoden: So untersucht er vielversprechende Fundstellen mithilfe neuer archäologischer Technologien und wertet darüber hinaus sowohl historische und schriftliche Quellen als auch traditionelle mündliche Überlieferungen aus. Gestrich möchte mit seinem Projekt, in dem er auch afrikanische Wissenschaftler einbindet, neue Erkenntnisse zur Urbanisierung in der Region des mittleren Nigers hervorbringen und gleichermaßen den Anstoß dazu geben, die bisherige Wahrnehmung afrikanischer Zivilisation neu zu hinterfragen.

Dr. Nikolas Gestrich (Foto: privat)

Wirtschaftswissenschaften und Recht stehen in einem engen Zusammenhang. Das zeigt das Beispiel der öffentlichen Regulierung von Finanzen. Sie versieht wirtschaftswissenschaftliche Erkenntnisse mit der Rechtsform. Jedoch verläuft dieses Zusammenspiel nicht immer harmonisch: Viele Rechtsnormen sind so vage, dass eigentlich widersprüchliche wirtschaftswissenschaftliche Ansätze damit vereinbar sind; umgekehrt geben wirtschaftswissenschaftliche Erkenntnisse dem Rechtsanwender häufig nur unzureichende Handlungsanleitungen. Darunter leidet letztendlich auch die finanzielle Stabilität. Wie lässt sich unter diesen Bedingungen dauerhaft eine stabile marktwirtschaftliche Ordnung innerhalb eines demokratischen Rechtsstaats verwirklichen?

Diesen Fragen geht der Jurist Dr. Matthias Goldmann auf den Grund. In seinem Freigeist-Fellowship untersucht er Probleme, die in den letzten Jahrzehnten auf staatlicher, europäischer und internationaler Ebene aus den Verflechtungen von Finanzwissenschaft und Öffentlichem Recht hervorgegangen sind. Er versucht, diese Probleme durch einen anderen Blickwinkel auf das Recht in den Griff zu bekommen. Danach dient das Recht vornehmlich zur Strukturierung von Entscheidungsprozessen. Darauf aufbauend möchte er eine Prinzipienlehre des öffentlichen Finanzrechts erarbeiten, die dabei helfen könnte, das Finanzwesen in einer demokratischen Marktwirtschaft zu stabilisieren.

Dr. Matthias Goldmann (Foto: Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht)

Menschen leben weltweit in einer Vielzahl von Lebensweisen und Kulturen, die sich nicht allein durch biologische Faktoren erklären lässt. Vielmehr sind es oft die sozialen Regeln und Normen innerhalb von Kulturkreisen, die soziale Abläufe koordinieren. Bisherige Untersuchungen über die Entwicklung von Normverständnis und seine psychologischen Grundlagen wurden hauptsächlich an Kindern westlicher Gesellschaften vorgenommen. Jedoch konnte bei Erwachsenen unterschiedlicher Kulturkreise gezeigt werden, dass deren Normverständnis in vielen Punkten stark voneinander abweicht. Dies lässt darauf schließen, dass die Entwicklungsverläufe westlicher Kinder nicht universell gültig sind. Vor diesem Hintergrund möchte die Psychologin Dr. Patricia Kanngießer aus einer kulturvergleichenden Perspektive heraus untersuchen, wie Kinder in verschiedenen Gesellschaften ein Verständnis von sozialen Normen entwickeln. Hierfür wird sie in einer großangelegten Studie die Entwicklungsverläufe von Kindern aus fünf verschiedenen, nicht-industrialisierten Gesellschaften in Afrika und Südamerika analysieren. Durch den transkulturell angelegten Vergleich wird sie herausarbeiten, welche Teile des sozialen Normverständnisses kulturübergreifend gelten und welche Teile durch unsere eigene kulturelle Umgebung entstehen.

Dr. Patricia Kanngießer (Foto: Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie)

Die Beziehung des Philosophen Martin Heidegger zum Nationalsozialismus wirft auch über 70 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs viele Fragen auf: Verherrlichte er dessen Ideologie? Oder stand er ihm gar kritisch gegenüber? Obwohl Heidegger bis 1945 Mitglied der NSDAP war, versuchte er die Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass er die nationalsozialistische Weltanschauung bereits 1934 kritisch sah. Besonders in den letzten Jahren traten an dieser Darstellung jedoch begründete Zweifel auf: So konnte die Wissenschaftlerin Dr. Sidonie Kellerer anhand des Vortrages "Zeit des Weltbildes" aus dem Jahr 1938 nachweisen, dass zahlreiche Passagen nachträglich so modifiziert wurden, dass die ursprüngliche Apologie des Nationalsozialismus nunmehr als Kritik am Regime gedeutet werden konnte. Die 2014 erschienenen Schwarzen Hefte mit persönlichen Aufzeichnungen Heideggers bestätigen zudem, wie tief verankert in seiner Philosophie Rassismus und Nationalsozialismus waren und blieben.

In ihrem Freigeist-Projekt "Heidegger und die Postmoderne: Geschichte einer Irreführung?" möchte Kellerer nun erstmalig durch einen systematischen Vergleich der Manuskripte aus der Zeit des Dritten Reiches mit den später veröffentlichten Texten untersuchen, in welchem Umfang diese nachträglich verändert wurden. Ebenso erforscht sie am Beispiel der Philosophie Jacques Derridas den erstaunlichen Erfolg, den Heideggers vermeintliche Kritik am Totalitarismus in Frankreich nach 1945 erfuhr. Die Kombination dieser philologischen Analyse mit philosophischer Interpretation und historischer Kontextualisierung wird die anhaltende Kontroverse um Heidegger auf dokumentierte Fakten stützen und so die doppelte Frage klären, worin Heideggers Denken in den Jahren des Nationalsozialismus bestand und worauf das Denken der Derrida-Schule bewusst oder unbewusst aufbaut.

Dr. Sidonie Kellerer (Foto: privat)

Nanomaterialien aus Kohlenstoff bestehen aus einigen tausend Atomen und besitzen spezielle Eigenschaften: Durch ihre große Oberfläche im Verhältnis zu ihrem Volumen sind sie chemisch sehr reaktiv und können als Katalysator für chemische Reaktionen dienen, wenn sie durch Licht angeregt werden. In der Praxis könnten diese Teilchen zudem künftig bei medizinischen Behandlungen als "Taxi" bestimmte Wirkstoffe im menschlichen Körper transportieren.

Als Freigeist-Fellow wird Tristan Petit ebendiese Eigenschaften und Reaktionen von kohlenstoff-basierten Nanopartikeln – vor allem an deren Oberfläche – detailliert untersuchen. Sein Fokus liegt dabei auf Wechselwirkungen von Nanopartikeln mit einem wässrigen Medium. Um diese Wechselwirkungen zu untersuchen, setzt der Forscher hochkomplexe Methoden und Geräte ein, unter anderem unterschiedliche Spektroskopiemethoden mit Röntgenstrahlung und Laserlicht. Für seine Versuche kann der Wissenschaftler auf bestehende Versuchsaufbauten wie das "Lixedrom" an der Elektronenspeicherringanlage BESSY II in Berlin und auf ein Laserlabor zugreifen. Die Methoden haben sich bereits für Untersuchungen von kohlenstoffbasierten Nano-Festkörpern bewährt, ihre Anwendung bei Nanokohlenstoffen in Flüssigkeiten ist jedoch neu. Seine Erkenntnisse will Petit einsetzen, um neue Generationen von kohlenstoffbasierten (Nano-)Materialien für unterschiedliche Anwendungen zu entwickeln, zum Beispiel für die Tumortherapie und für die Erzeugung von solaren Brennstoffen durch künstliche Photosynthese.

Dr. Tristan Petit (Foto: Helmholtz-Zentrum Berlin für Materialien und Energie)

Spätestens seitdem der Ausbruch des Eyjafjallajökull auf Island im Jahr 2010 zum Ausfall von rund 100.000 Flügen geführt hat, ist bekannt, dass vulkanische Asche den Luftverkehr gravierend beeinflussen kann: In den Flugzeugturbinen kann sie sich beispielsweise auf den heißen Bauteilen ablagern und die Kraftstoffdüsen und benetzten Turbinen- und Turbinenleitschaufeln verstopfen. Zusätzlich besteht die Gefahr, dass die Aschepartikel in die thermischen Barriereschichten (TBC) der heißen Turbinenbauteile eindringen und dort ebenfalls einen erheblichen Schaden anrichten, der von der Überhitzung bis hin zum Ausfall der Turbinen führen kann.

Der Chemieingenieur Dr. Wenjia Song untersucht in seinem interdisziplinär ausgerichteten und risikofreudigen Projekt, welche Bedingungen zur Verschlechterung der Turbinenleistungen führen und wie diese Effekte abgemildert werden können. Weiterhin geht er der Frage nach, wie die Widerstandskraft der TBC gegen Schäden durch vulkanische Asche verbessert werden kann. Dabei verknüpft Song Konzepte aus dem Chemieingenieurwesen mit biomimetischen Ansätzen (z. B. dem Lotuseffekt) und bedient sich methodisch moderner Technologien (Aschefusionstests, thermische Sprüh-Technologie und Ultra-Impuls Lasertechnologie) aus der Geomaterialforschung bis hin zur Untersuchung der Einflüsse von Ascheablagerungen in den Turbinen in makro- wie mikroskopischer Hinsicht.

Dr. Wenjia Song (Foto: privat)

Der rasante technische Fortschritt, den wir im Alltag erleben, basiert häufig auf der – wenig sichtbaren – Entwicklung von neuen metallischen Werkstoffen. Den Preis für die verbesserte Lebensqualität zahlt die Natur: Nach Angaben der EU muss eine Halbierung der CO2-Emission bereits vor 2050 erfolgen, um irreparable Schäden an unserem Ökosystem zu vermeiden.

Der Materialwissenschaftler Dr. Cemal Cem Tasan möchte sich dieses Problems mit seinem Projekt "Perpetual Alloys" annehmen. Sein Ziel ist es, neuartige tragfähige Metalle zu entwickeln, die – auch bei längerem Betrieb – auf einfache Weise in die originalen Mikrostrukturen und Eigenschaften zurückgeführt werden können, deren Legierungen sich also besser "heilen" lassen. Sollte dies gelingen, könnte einerseits weniger Metall in der Herstellungskette verbraucht, andererseits aber auch die Lebensdauer des Metalls verlängert werden. Zu guter Letzt könnte seine Forschung ebenso dabei helfen, Metalle zukünftig ökologisch-nachhaltiger, aber auch schneller und kostengünstiger zu recyceln.

Hintergrund: Freigeist-Fellowships

Die fachoffenen Freigeist-Fellowships richten sich an außergewöhnliche Forscherpersönlichkeiten nach der Promotion, die sich zwischen etablierten Forschungsfeldern bewegen und risikobehaftete Wissenschaft betreiben möchten. Der nächste Stichtag ist der 15. Oktober 2015. Mehr Informationen zu den Freigeist-Fellowships finden Sie unter Freigeist-Fellowships.

 

Dr. Cemal Cem Tasan (Foto: privat)