Symposium "25 Jahre Wissenschaft und Wiedervereinigung" – Tagungsbericht

25 Jahre nach der Wiedervereinigung nahm ein Herrenhäuser Symposium in Hannover die Entwicklung der ostdeutschen Hochschul- und Forschungslandschaft seit der Einheit in den Blick und diskutierte die Lehren für die Zukunft.

Bericht zum Herrenhäuser Symposium "25 Jahre Wissenschaft und Wiedervereinigung" am 6. und 7. Juli 2015 Veranstalter: VolkswagenStiftung zusammen mit dem Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft Audio-Mitschnitte, Redemanuskripte sowie weitere Fotos finden Sie im Veranstaltungsarchiv des Stifterverbands - 25 Jahre Wissenschaft und Wiedervereinigung

Der Generalsekretär der VolkswagenStiftung Wilhelm Krull begrüßt die Teilnehmer im Schloss Herrenhausen. (Foto: David Carreno Hansen für VolkswagenStiftung)

Tagungsbericht "25 Jahre Wissenschaft und Wiedervereinigung"

Als am 9. November 1989 die Mauer fiel, hatte das nicht nur gewaltige politische, soziale und wirtschaftliche Veränderungen zur Folge, sondern es läutete auch das Ende des Wissenschaftssystems der DDR ein. Wie sich die Hochschul- und Forschungslandschaft in Ostdeutschland in den 25 Jahren seit der Einheit veränderte, welche Erfahrungen gemacht wurden und welche Lehren für die Zukunft man daraus ziehen kann, waren Fragen, auf die das Herrenhäuser Symposium "25 Jahre Wissenschaft und Wiedervereinigung" Antworten fand. Als Ausgangspunkt für die Zukunft des Wissenschaftsstandorts des vereinigten Deutschlands gelten die zwölf Empfehlungen, die der Wissenschaftsrat (WR) im Juli 1990 vorlegte. "Das war eine wichtige Weichenstellung und ein Drahtseilakt zugleich, da die BRD und die DDR damals noch zwei souveräne Staaten waren und der WR sich als westdeutsches Gremium Gedanken um einen anderen Staat machte", sagte Wilhelm Krull, Generalsekretär der VolkswagenStiftung. Ziel aller Beteiligten war ein freiheitliches föderales Wissenschaftssystem. (Grußwort Wilhelm Krull zum Download, pdf) Andreas Schlüter, Generalsekretär des Stifterverbands für die Deutsche Wissenschaft, erinnerte an die Ängste und zugleich an die Euphorie der ostdeutschen Hochschulrektoren. Einige hätten befürchtet, dass die Wiedervereinigung negative Folgen für die Kooperation mit den Wissenschaftspartnern in Osteuropa haben könnte; andere seien euphorisch gewesen, weil sie Zugang zur westlichen Wissenschaft bekämen und es ihnen ermöglicht würde, die eigene Einrichtung zu reformieren. 

Bundesbildungsministerin Johanna Wanka, zu Wendezeiten Wissenschaftliche Oberassistentin an der Technischen Hochschule Leuna-Merseburg, erklärte, die Begutachtung der ostdeutschen Hochschulen und Institute der Akademie der Wissenschaften sei für alle Neuland und zugleich eine gewaltige Aufgabe gewesen. "Der damalige Weg war der einzig mögliche, sonst wären die Leistungsträger weggegangen", bekräftigte sie. Positiv war aus ihrer Sicht, dass man in den ostdeutschen Ländern Fachhochschulen (FH) neu aufbaute. Im Unterschied zum Westen habe man in den ostdeutschen Hochschulgesetzen den FHs Forschung als gesetzlichen Auftrag verordnet. Dies, lobte sie, sei nun bundesweit Standard. Vor dem Hintergrund des gigantischen Zeitdrucks müsse man aber auch Irrtümer gestehen. Die Forschungskompetenz der Industrie sei vielfach verloren gegangen. Mittlerweile finanziere der Staat in Ostdeutschland zwei Drittel der Forschungsausgaben, Unternehmen ein Drittel. In Westdeutschland sei das Verhältnis umgekehrt. Jürgen Kocka, seinerzeit Leiter der AG Geisteswissenschaften des WR, führte aus, dass die Transformation eine Erfolgsgeschichte gewesen sei – sie sei aber auch an ihre Grenzen gestoßen: "Einige meinten, man hätte damals die Chancen nutzen sollen, um das gesamte Wissenschaftssystem zu reformieren." Horst Franz Kern, ehemaliger Vorsitzender der Wissenschaftlichen Kommission des WR, sprach angesichts der enormen Dimension der Aufgabe, innerhalb von 18 Monaten bis Ende 1991 mehr als 130 Institute der Akademie zu begutachten, von einer "psychologisch schweren Aufgabe". Evaluierer und Evaluierte seien aus verschiedenen Kulturen gekommen, die Institute sollten Ende 1991 aufgelöst und 60 Prozent des Personals abgebaut werden. Der WR-Vorsitzende Manfred Prenzel lobte die Entscheidungen zwischen 1989 und 1991 mehrheitlich als sehr positiv. Die neuen Landeshochschulgesetze, der Hochschulbau im Osten oder die WR-Empfehlungen zu den Akademieinstituten, die breite Akzeptanz gefunden hätten, hätten sich als Segen erwiesen. Allerdings habe man auch so manche Schwächen des westdeutschen Hochschulsystems, wie die Massenfächer an den Universitäten, in den Osten überführt. Zudem habe es keine Wiedergutmachung für Wissenschaftler gegeben, denen zu DDR-Zeiten Unrecht getan wurde, und bis heute herrsche eine regionale Unausgewogenheit in der ostdeutschen Forschungslandschaft. Dass damals manch Missverständnis zu Tage trat, verdeutlichte der frühere Rektor der Universität Leipzig, Cornelius Weiss, am Beispiel der Wissenschaftler der Akademien, die an den Universitäten untergebracht werden sollten: "Wir konnten keine Forscher der Akademie aufnehmen, da wir selbst 6.000 Stellen abbauen mussten." Zudem galten ostdeutsche Universitäten irrigerweise nur als Lehranstalten, nicht als Stätten der Forschung. "Dieses Bild war falsch, denn natürlich wurde geforscht und international publiziert", betonte Weiss. Dass das westdeutsche Wissenschaftssystem der DDR übergestülpt wurde, sieht Joachim Sauer, Chemieprofessor an der Humboldt-Universität zu Berlin, immer noch als richtige Entscheidung: "Die Akademien bildeten eine leistungsfeindliche Struktur." Deren Auflösung sei richtig gewesen. Hans-Joachim Meyer, im Jahr 1990 DDR-Wissenschaftsminister in der Regierung de Maizières, befand, dass eine "personelle und strukturelle Hochschulerneuerung" als Reform unausweichlich gewesen sei. So seien etwa neue Strukturen unabdingbar gewesen, weil die DDR vor allem Spezialisten ausbildete. Deshalb habe es viele Spezialhochschulen und weniger Universitäten gegeben. Auf Schwierigkeiten mit der Politik hob Jürgen Mittelstraß von der Universität Konstanz ab. Der WR habe damals die Chance für ein modernes Hochschulsystem gesehen und vor einer "Universitätslastigkeit" gewarnt. Man habe mehrmals darauf hingewiesen, in den neuen Bundesländern den Fachhochschulen eine Priorität gegenüber den Universitäten zu geben. "Diese Chance hat man nicht konsequent genutzt", kritisierte er. Stattdessen habe man allein in Brandenburg drei neue Universitäten gegründet.

Im Gespräch: Wilhelm Krull, Johanna Wanka und Manfred Prenzel (v.l.n.r.) (Foto: David Carreno Hansen für VolkswagenStiftung)

Persönlich und selbstkritisch bilanzierte der ehemalige WR-Vorsitzende Dieter Simon die Nachwendezeit: "Unter den damaligen Bedingungen hat der WR noch das Beste gemacht." Die Probleme, die damals den Westen prägten, wie das Ungleichgewicht zwischen FHs und Universitäten, die Massenstudiengänge an den Universitäten oder die Versäulung des Wissenschaftssystems seien auch heute noch vorhanden. Er habe seitdem ein tiefes Misstrauen gegen Planung, denn die Pläne seien immer den Ergebnissen hinterhergehinkt. Doch ohne die Planung, hielt der frühere Referatsleiter in der WR-Geschäftsstelle Hans-Jürgen Block dagegen, hätte man nie die Finanzsicherheit bekommen, um das Ausbauprogramm für die Hochschulen zu finanzieren. Dass die ostdeutsche Wissenschaft den Rückstand zum Westen so rasch aufholen konnte, schrieb Peter Strohschneider, Präsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), auch der Integrationsleistung der DFG zu. So seien allein über das Programm zur Förderung der Forschungskooperation zwischen BRD- und DDR-Wissenschaftlern im Jahr 1990 mehr als 1.800 DDR-Forscher zu Tagungen oder Forschungsaufenthalten in den Westen gegangen, 1.400 Westdeutsche in den Osten. "Die ostdeutschen Hochschulen haben zunehmend an Forschungskraft gewonnen", sagte Strohschneider. Habe es 1992 fünf Sonderforschungsbereiche (SFB) und elf Graduiertenkollegs gegeben, seien es mittlerweile 44 SFBs und 39 Graduiertenkollegs. Eingetrübt sieht er diese Forschungsleistung, da die Länder die Drittmittel als Ersatz für nicht ausreichend finanzierte Hochschulen nutzen. Um die Probleme knapper Mittel an den Hochschulen zu bekämpfen, wolle man mehr Planungssicherheit geben, kündigte deshalb der für Wissenschaft, Wirtschaft und Digitale Gesellschaft zuständige thüringische Minister Wolfgang Tiefensee an. Thüringen werde die Grundfinanzierung der Hochschulen jährlich um drei Prozent erhöhen. Aktuelle Probleme ostdeutscher Hochschulen rückte Wilhelm-Günther Vahrson, Präsident der FH Eberswalde, in den Mittelpunkt. In Ostdeutschland seien die Abiturientenzahlen seit der Wende um 50 Prozent zurückgegangen. "Regional aufgestellte Hochschulen haben deshalb schwer mit demographischen Problemen zu kämpfen." Schwierig sei auch, Kooperationspartner in der Wirtschaft zu gewinnen. Die Rektorin Beate Schücking von der Universität Leipzig beschrieb unterschiedliche Auffassungen hinsichtlich des Profils der Studierendenschaft. Etwa 47.600 Studieninteressierte bewerben sich jeden Herbst auf die rund 7.000 Studienplätze, davon ca. 12 Prozent aus dem Ausland. "Das zeigt die neugewonnene Attraktivität unserer Universität", sagte Schücking. Ihr Ziel seien 15 Prozent. Dies werde jedoch von Landespolitikern kritisiert, nach deren Meinung eine sächsische Hochschule eher für sächsische Abiturienten zuständig sein solle. Für die Max-Planck-Gesellschaft (MPG) habe der Aufbau von 18 neuen Instituten in Ostdeutschland enorme Auswirkungen gehabt, berichtete ihr Präsident Martin Stratmann. 50 Direktoren seien neu berufen worden, davon 60 Prozent aus dem Ausland. "Das war die erste Welle an Auslandsberufungen, in vielen Instituten wurde danach englisch gesprochen", erklärte Stratmann. Die Internationalisierung der MPG sei dadurch ins Rollen gekommen. Für die Fraunhofer-Gesellschaft beklagte Präsident Reimund Neugebauer vor allem die mangelnde Industrieforschung im Osten: "Während im Bereich des Wissenschaftssystems Kontinuität gewahrt wurde, fehlen uns die Partner in der Wirtschaft." Von einer "dramatischen Spreizung" sprach Generalsekretär Andreas Schlüter vom Stifterverband. Während Baden-Württemberg international Spitze sei beim Anteil der Forschungsausgaben der Unternehmen am Bruttoinlandsprodukt (BIP), geben Unternehmen in Brandenburg/Berlin nur 0,3 Prozent des BIP für Forschung aus. Auch andere ostdeutsche Bundesländer wie Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern lägen weit unter dem Bundesdurchschnitt von 1,9 Prozent. Eine Bilanz der Forschungsförderung zog Georg Schütte, Staatssekretär im Bundesministerium für Bildung und Forschung. Dank der Förderprogramme sei es gelungen, junge Talente in den Osten zu locken. Es gebe Erfolge in der Spitze wie in Greifswald mit der klinischen Forschung oder das OncoRay-Center zur Strahlentherapie in der Krebsbehandlung in Dresden – aber auch Defizite in der Fläche. In Zukunft gehe es weniger um Förderinstrumente für ostdeutsche Regionen, sondern generell um strukturschwache Regionen. Bundesweit, dies resümierte der Präsident der Helmholtz-Gemeinschaft Jürgen Mlynek, sei das Wissenschaftssystem so gut wie seit 70 Jahren nicht mehr aufgestellt. Herausforderungen sehe er weniger in der spezifischen Situation Ostdeutschlands, sondern eher in der Frage, wie Deutschland insgesamt international wettbewerbsfähig bleibe. Benjamin Haerdle, Freier Journalist

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Jürgen Mlynek, Wolfgang Schareck, Wilhelm Krull, Wolfgang Göhde und Wolfgang Tiefensee (v.l.n.r.) diskutieren zukünftige Herausforderungen für die Hochschul- und Forschungspolitik. (Foto: David Carreno Hansen für VolkswagenStiftung)