Event report

Herrenhäuser Symposium "Umbruch durch Migration. Ein Neustart für die Selbstreflexion in Wissenschaft und Demokratie"

Vera Szöllösi-Brenig, VolkswagenStiftung

Am 16. und 17. März diskutierten Wissenschaftler(innen) und Mitglieder von Flüchtlingsinitiativen beim Herrenhäuser Symposium "Umbruch durch Migration. Ein Neustart für die Selbstreflexion in Wissenschaft und Demokratie". Hier finden Sie den Veranstaltungsbericht und ausgewählte Audio-Beiträge.

Eine Word-Cloud rund um Einwanderungsthemen in Form eines Kopfes.

Die Migrationsbewegungen zwingen nicht nur das politische System in Deutschland, sondern auch die Wissenschaft dazu, neue Denkräume zu erschließen. Wie lässt sich ein neues Miteinander gestalten? 

Auch wenn "der lange Sommer der Migration" im Jahr 2015 vorbei ist und sich die Flüchtlingsaufnahmelager langsam leeren, so kann doch kein Zweifel daran bestehen, dass Deutschland und ganz Europa auch in Zukunft unter ständigem Migrationsdruck stehen werden. Eine der politischen Rückwirkungen ist das Erstarken der rechtspopulistischen Parteien. Die Erleichterung darüber, dass am 15. März 2017 der Rechtspopulist Geert Wilders nicht als Sieger aus den Parlamentswahlen in den Niederlanden hervorgegangen ist, sei zwar groß, aber nicht wirklich beruhigend, formulierte der Generalsekretär der VolkswagenStiftung Wilhelm Krull (Hannover) in seiner Begrüßung beim Herrenhäuser Symposium "Umbruch durch Migration. Ein Neustart für die Selbstreflexion in Wissenschaft und Demokratie". Er führte die lange Liste der Förderimpulse an, mit denen die Stiftung seit langem die Forschung zu diesem Thema unterstützt hat, immer mit dem Ziel, daraus auch Erkenntnisse für die Politik zu generieren: von der Gastarbeiterforschung in den 1970er Jahren über das Programm "Das Fremde und das Eigene" bis hin zu den "Studiengruppen für Migration und Integration", die in der Gründung des "Sachverständigenrates deutscher Stiftungen für Migration und Integration" mündeten. Und doch: Ist die Situation heute nicht anders und erfordert von der Wissenschaft neue Antworten? Macht der Migrationsdruck einen Umbruch in Forschung und Politik notwendig?

Gesellschaftliche Vielfalt. Eine Herausforderung im Rahmen des Verfassungsrechts

Keynote von Susanne Baer, Richterin des Bundesverfassungsgerichts

Ihr Plädoyer ziele nicht auf einen Neustart, sondern auf Aktualisierung und Selbstvergewisserung unserer Gesellschaft, betonte Susanne Baer (Karlsruhe) in ihrer Keynote. Dass gesellschaftliche Vielfalt eine Herausforderung ist, die im Rahmen des Verfassungsrechts beantwortet werden kann und muss, führte die Richterin am Bundesverfassungsgericht anhand eines literarischen Textes vor: Goethes "Herrmann und Dorothea". In Hexametern wird dort die kurze Geschichte erzählt, wie sich der reiche Wirtssohn in eine junge Frau verliebt, die in einem Flüchtlingstreck an seiner Heimatstadt vorbeizieht. Ein Epos mit Happy End, in dem ein Richter eine wichtige Rolle spielt. "Und sogleich verklang das Getöse, als er Ruhe gebot", zitierte Baer, um das Recht als das beste Angebot zur Orientierung in der Krise herauszustellen. Das Verfassungsrecht sei ein säkulares Versprechen und habe ein sozial verankertes, verantwortliches Individuum vor Augen, das andere als Gleiche akzeptiere. Menschenwürde, Freiheit und Gleichheit seien die Rechte, die allen zustehen; als weitere Orientierung dienten die Prinzipien Demokratie, Rechtsstaat und Sozialstaat; umgesetzt würden sie in Verfahren, von denen das gesetzgebende Verfahren des Parlaments im Zentrum stehe. Weder Einheitsvorstellung wie Volk oder Nation, noch Geschichte könnten diese Orientierungsleistung des Rechts übernehmen. Das Recht gebiete – heute wie in Goethes Epos – der Furcht Einhalt, die die Flüchtlinge auslösten. Denn Flüchtlinge verkörperten den Zusammenbruch einer Ordnung, könne ihr Schicksal doch jeden ereilen.

Darum sollt Ihr auch die Fremdlinge lieben

 

Keynote von Moshe Zimmermann, Hebräische Universität Jerusalem

Wie ein Echo dieser Erkenntnis – die Brüchigkeit aller historischen Ordnungen – wirkte das Bibelzitat, mit dem Moshe Zimmermann (Jerusalem) seine Keynote betitelte: "Darum sollt ihr auch die Fremdlinge lieben; denn ihr seid auch Fremdlinge gewesen in Ägyptenland" (5 Mose 10). Die Bibel stärke ihr Argument mit dem Verweis auf die kollektive historische Erfahrung der Unterdrückung der Juden in Ägypten. Und doch könne Geschichte nicht die einzige Antwort sein. Aus ein und derselben historischen Erfahrung des Holocaust hätten Deutschland und Israel zwei unterschiedliche Schlussfolgerungen gezogen. Während Israel seit der politischen Wende 1977 das biblische Gebot auf Eis gelegt habe und seine Demokratie nur für die jüdische Bevölkerung, nicht aber für die Palästinenser verstehe, habe Deutschland die Botschaft richtig verstanden: Offenheit gegenüber Einwanderung, Akzeptanz der kulturellen Vielfalt auf der Basis der republikanischen Werte, die "Willkommenskultur". Wie die fremdenfeindlichen Übergriffe jedoch zeigten, sei letztere in Gefahr. Zimmermann fragte pointiert: Werden die Flüchtlinge und die Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland die "neuen Juden"?

In seinem Kommentar griff Christoph Gusy (Bielefeld) das Thema der Willkommenskultur auf: Die Zivilgesellschaft habe sich 2015 bewährt. Weit weniger brillant sei die Performance der öffentlichen Hand gewesen. Hier habe es einen partiellen Kontrollverlust gegeben, der von der Zivilgesellschaft aufgefangen worden sei. Doch wieviel Kontrollverlust sei möglich, ohne dass die Demokratie beschädigt werde? Pegida interpretierte Gusy nicht als Protest gegen die Migranten, sondern als Protest der einen Hälfte der Gesellschaft, die die Integration von der anderen, tonangebenden Hälfte der Gesellschaft aufgebürdet bekommen habe.

Die Aufgabe der Wissenschaft in dieser historischen Herausforderung stand im Zentrum von Sektion 2. Wie Hans-Georg Soeffner (Essen) als Moderator betonte, gewährt die Gesellschaft der Wissenschaft Freiheit, damit sie als Korrektiv für Politik und Gesellschaft wirken kann.

Integration neu denken: Die postmigrantische Perspektive in der Integrationsforschung

Impulsvortrag von Naika Foroutan, Humboldt-Universität zu Berlin

Dass Integration heute neu gedacht werden müsse, betonte Naika Foroutan (Berlin) in ihrem Impulsvortrag. Sie zeichnete die historische Entwicklung in Deutschland von der Anwerbung der Gastarbeiter in den 1950er/1960er Jahren über das Kühn-Memorandum und die Tendenz zu "Multikulti“ 1980 bis zum pragmatischen Realismus der 2000er Jahre nach, die in der Reform des Staatsangehörigkeitsrechts mündete. Gegen die Tendenzen eines Roll Back forderte Foroutan das Narrativ eines neuen Integrationsparadigmas aus "postmigrantischer Perspektive". Es müssten Leitbilder für eine integrative Gesellschaft geschaffen werden, um die eigentliche Zweiteilung der Gesellschaft – die einen sind pro, die anderen contra Pluralität – zu überwinden. Dass in dieser Pluralität auch eine zentrale Herausforderung für die islamische Theologie liegt, betonte Mouhanad Khorchide (Münster). Er forderte die Entwicklung einer Koranhermeneutik, die eine unveränderliche Glaubensgewissheit durch eine islamische Ideengeschichte mit historisch variablen Ausdrucksformen des Glaubens ergänzt. Der Koran solle nicht als monologischer Text, sondern als Rede verstanden werden, der sich an die jeweiligen Gläubigen in ihrem historischen Kontext wendet. So könne auch endlich der islamischen Vielfalt Rechnung getragen werden. Die islamische Theologie stehe am Anfang eines Selbstfindungsprozesses.

Dass das Narrativ des Fremden auch immer das Eigene spiegele, betonte Andreas Zick (Bielefeld) in seiner Einführung in Sektion 3 und bezeichnete dieses Eigene unter Rückgriff auf den amerikanischen Politikwissenschaftler Benedict Anderson als "Imagined Community". Drei Impulsvorträge setzten in der Diskussion unterschiedliche thematische Foki: Der katholische Theologe Klaus von Stosch(Paderborn) beschrieb das an seiner Universität aufgebaute "Zentrum für Komparative Theologie und Kulturwissenschaften (ZeKK)" als eine solche neue "Imagined Community". Theologie sei für ihn eine Handlungswissenschaft. Integrationsprozesse sollten nicht nur verstanden, sondern auch theologisch gestaltet werden – gerade um das weitere Erstarken religiöser Fundamentalismen zu verhindern. Es gelte, die Kooperation der verschiedenen Theologien zu stärken und sie mit anderen Wissenschaften zu verknüpfen. Die Sozialwissenschaftlerin Meltem Kulaçatan (Frankfurt am Main) widmete sich in ihrem Beitrag der Genderthematik: Migration sei von moslemischen Frauen vielfach als Emanzipationsmoment verstanden worden, in der Burkafrage erlebten sie sich jedoch plötzlich als Integrationshindernis. Die Politikwissenschaftlerin Ursula Birsl(Marburg) wiederum – hierin die Keynote von Susanne Baer hinterfragend – wies auf einen unüberwindbaren Widerspruch in unserem Grundgesetz hin: auf die Trennung von Menschen- und Bürgerrechten. Während erstere allen Menschen universal zugeschrieben würden, blieben die Bürgerrechte Menschen mit deutscher Staatsbürgerschaft vorbehalten. Es werde darum gehen, Nicht-Deutschen Teilhabe an den Bürgerrechten zu gewähren und damit der informellen Bürgerschaft, die schon längst entstanden sei, Rechnung zu tragen.

Sektion 4 unter der Leitung von Hiltraud Casper-Hehne (Göttingen) widmete sich dem Transferaspekt und Modellen guter Praxis in Schule und Hochschule. Sprache und konkreter: Deutschkenntnisse seien Voraussetzung für gesellschaftliche Teilhabe, führte Michael Becker-Mrotzek (Köln) in seinem Impulsvortrag aus. Ungefähr 330.000 Kinder unter 18 Jahren seien 2015 nach Deutschland gekommen und hätten damit die Chance, in der Schule Deutsch zu lernen. Auf die schwierige Situation hätten die Schulen mit unterschiedlichen Modellen reagiert: Während die einen die Migrantenkinder sofort in die Regelschule eingruppierten, hätten die anderen sogenannte "Willkommensklassen" eingerichtet, in denen die Kinder erst einmal unter sich blieben; daneben gebe es Mischmodelle. Becker-Mrotzek forderte, Mindestanforderungen und Standards festzulegen, wie in Zukunft der Schulunterricht mit Schüler(inne)n ohne Deutschkenntnisse gestaltet werden sollte: Wie lange sollten Kinder in Willkommensklassen verweilen, wie groß sollten die Lerngruppen sein, welche Ausbildung sollten die Lehrkräfte haben?

Migrationsmagneten und Integrationsmotoren. Anforderungen an die Hochschulen in der Migrationsgesellschaft. Modelle guter Praxis.

Impulsvortrag von Yasemin Karakaşoğlu, Universität Bremen

Auch die Hochschulen könnten und sollten eine Rolle als "Integrationsmotoren" spielen, forderte Yasemin Karakaşoğlu (Bremen). Es gehe um eine "selbstreflexive, migrationsgesellschaftliche Öffnung von Hochschulen", die als Institution die Migrationsgesellschaft aktiv mitgestalten sollten. Sie warnte davor, geflüchtete Studierende wie auch Studierende mit Migrationshintergrund durch Zuschreibungen in ihrem Status der "Otherness" zu zementieren. Stattdessen sollte die Hochschule durch Internationalität und Interkulturalität die gesellschaftliche Pluralität fördern. In diesem Sinne könne die Universität als Ort der Aufklärung wirken. Dass der Umgang mit Vielfalt ein pädagogischer Dauerbrenner sei, erläuterte Dagmar Wolf (Stuttgart) in ihrem Beitrag. In dem Projekt "Chancengleich" beispielsweise qualifiziere die Robert Bosch Stiftung pädagogische Fachkräfte schon im Kindergartenbereich.

Die Paneldiskussion zum Abschluss der Konferenz griff noch einmal den Titel der Veranstaltung auf: Bedarf es eines Neustarts in der Wissenschaft, um der Situation heute angemessen zu begegnen? Nein, die bestehenden Maßnahmen müssten nur fortgesetzt, ausgebaut und vorgelebt werden, so die Bildungsforscherin Cordula Artelt (Bamberg). Das Besondere der heutigen Situation liege darin, dass die Flüchtlingsproblematik mit dem Umbruch durch die Digitalisierung zusammenfalle. Für die Professorin für Interkulturelle Germanistik Casper-Hehne besteht die eigentliche Problematik darin, dass viele Maßnahmen nur projektförmig finanziert seien und zu fragen sei, wie sich ihr Erfolg nachhaltig sichern lasse. Wolfgang Rohe von der Stiftung Mercator (Essen), die seit Jahren universitäre Bildungsforschung unterstützt, sah eine neue Herausforderung in der Selbstreflexion der Wissenschaft: Halte sie an ihrer Neutralität fest oder ziele sie selbst auf "Identity Politics" und verändere so ihren epistemologischen Anspruch? Einen anderen kritischen Akzent setzte der Politikwissenschaftler Aladin El-Mafaalani (Münster): Seiner Ansicht nach müsse es heute tatsächlich um einen Neustart in der Wissenschaft gehen. Ereignisse wie die Übergriffe in der Silvesternacht in Köln zeigten, dass die Probleme angesprochen und nicht tabuisiert werden dürften. Integrationsforschung müsse systematisch betrieben werden. Und schließlich gehe es darum, die Sprachlosigkeit über alle antiliberalen Phänomene wie Salafismus und Rechtspopulismus zu überwinden. Das Neuartige unserer heutigen Situation bestehe darin, dass die Gesellschaft – nach Jahren vielleicht zu großer Offenheit – nun einen Schließungsprozess erlebe.

Ob in der Wissenschaft ein Neustart nötig ist oder ob bestehende Konzepte ausgebaut werden sollen: Dass sich die politischen Rahmenbedingungen von Migration heute geändert haben, war unausgesprochen Konsens bei diesem Herrenhäuser Symposium mit seinen rund 150 Teilnehmer(innen) aus Wissenschaft und von Flüchtlingsinitiativen. Die in die Konferenz eingebettete öffentliche Abendveranstaltung "Wie schaffen wir das? - Zuwanderung als Herausforderung und Chance" war auch gut besucht. In seinem Schlusswort versprach Wilhelm Krull, dass die VolkswagenStiftung die Forschung zu Migration und Integration auch künftig auf vielfältige Weise unterstützen werde.